Interview Valerie Höllinger und Joanna Gajdek
Ohne Frauen? Kein Standard für die Zukunft!

Während Frauen aus dem Bereich der technischen Standardisierung lange Zeit kaum vertreten waren, hat sich die Zahl der Teilnehmerinnen in den letzten Jahrzehnten langsam, aber dennoch verbessert. Aber welche Auswirkungen hat es, wenn Frauen beim Entstehen von Standards unterrepräsentiert sind? LEADERSNET hat bei Valerie Höllinger, CEO von Austrian Standards, und Joanna Gajdek, Komiteemanagerin im Teamlead und Verantwortliche für die Umsetzung des Gender Active Plan, nachgefragt.

LEADERSNET: Sehr geehrte Frau Höllinger, sie betonen regelmäßig, dass es für Sie wichtig sei, den Frauenanteil in der Standardisierung zu heben. Warum ist es ihnen so wichtig? Standardisierung soll doch per se neutral und für alle da sein?

Valerie Höllinger: Das stimmt. Standardisierung ist neutral, transparent und offen. Unsere Verpflichtung bei Austrian Standards ist es, dass Standards, die allen dienen, gemacht werden. Dazu gehört auf eine ausgewogene Zusammensetzung der Komitees zu achten, zum Beispiel im Hinblick auf die verschiedene Stakeholder-Gruppen. Und ein weiterer Aspekt der Ausgewogenheit ist auch die Geschlechterverteilung.

Das ist deswegen so wichtig, weil Standards nahezu alle Bereiche unseres Lebens – von der Sicherheit von Produkten bis zur Digitalisierung – beeinflussen. Standards legen fest, wie Dinge funktionieren, sei es die Breite von Autositzen, die Testverfahren für Medikamente oder die Anforderungen an künstliche Intelligenz. Wenn in der Standardisierung hauptsächlich Männer aktiv sind, fließen deren Perspektiven und Erfahrungen überproportional stark in Standards ein. Dadurch können unbeabsichtigt Standards entstehen, die die Bedürfnisse von Frauen nicht vollständig berücksichtigen. Ein weiteres Problem ist, dass Innovationen gehemmt werden. Vielfalt ist ein Treiber für Kreativität und neue Lösungen. Wenn Frauen fehlen, fehlen auch ihre Ideen und Perspektiven. Das führt nicht nur zu Ungleichheit, sondern bringt auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Nachteile mit sich. Deshalb war es mir ein Anliegen, eine verantwortliche Person bei Austrian Standards zu benennen, die sich diesem relevanten Handlungsfeld verschreibt. Ich bin sehr dankbar, dass Joanna Gajdek dieses wichtige Thema nicht nur in Österreich vorantreibt, sondern sich auch auf europäischer und internationaler Ebene engagiert.

Standardisierung lebt von dem Betrachten aus unterschiedlichen Blickwinkeln, vom Dialog und dem Finden eines Konsenses, der für alle das Beste ist. Und wenn Frauen in der Standardisierung unterrepräsentiert sind, fehlen einfach wichtige Sichtweisen.

LEADERSNET: Sehr geehrte Frau Gajdek, haben Sie ein konkretes Beispiel, wo sich das Fehlen weiblicher Perspektiven bemerkbar macht?

Joanna Gajdek: Zum Beispiel bei der persönlichen Schutzausrüstung oder bei Atemschutzmasken. Lange Zeit mussten Frauen, die auf Männer zugeschnittene Ausrüstung tragen, was ein Sicherheitsrisiko war. Das wurde bereits in der Standardisierung berücksichtigt und damit ein wichtiger Schritt gesetzt, um dieses Problem zu beheben. Ein klassisches Beispiel ist die Sicherheitsforschung bei Autos. Lange Zeit wurden Crashtest-Dummies auf Basis eines durchschnittlich männlichen Körpers entwickelt, was dazu führte, dass Frauen in Autounfällen ein höheres Risiko für Verletzungen hatten. Erst durch Forschung und das Engagement von Frauen in der Standardisierung wurde das Problem sichtbar gemacht und daraufhin angepasst. Es geht nicht darum, Frauen oder Männer zu bevorzugen, sondern um eine inklusive Herangehens-weise. Vielfalt sorgt für bessere Lösungen. Und das betrifft nicht nur Sicherheitsaspekte, sondern auch Komfort, Zugänglichkeit sowie Effizienz von Produkten und Dienstleistungen.

LEADERSNET: Historisch gesehen ist die Standardisierung eine Männerdomäne. Woran liegt das?

Höllinger. Die Standardisierung ist seit ihrem Entstehen stark mit Technik, Ingenieurwesen und Bauprozessen verbunden. Das sind alles Bereiche, in denen Frauen lange Zeit unterrepräsentiert waren. Ein weiterer Faktor ist, dass das aktive Engagement der Standardisierung Zeit erfordert. Insbesondere Frauen sind häufig mit einer Mehrfachbelastung konfrontiert und müssen verschiedene Verantwortlichkeiten gleichzeitig bewältigen. Das begünstigt nicht unbedingt eine Teilnahme von Frauen an der Standardisierung.

Als die österreichische Standardisierungsorganisation gehen wir mit gutem Beispiel voran: Mit mir steht nun die zweite Frau in Folge an der Spitze der Organisation, das Geschlechtsverhältnis bei den Mitarbeitenden ist ausgeglichen und wir wurden 2024 mit dem EqualitA Siegel ausgezeichnet. Aber, und das ist ein großes Aber, bei der Standardisierung selbst ist definitiv noch Luft nach oben. Es braucht eine noch stärkere Sensibilisierung für das Thema: Das Aufzeigen, dass Frauen durch eine Mitarbeit in der Standardisierung aktiv die Zukunft der Wirtschaft gestalten können. Je früher Frauen im Laufe ihrer Karriere mit der Standardisierung in Berührung kommen, desto eher sehen sie es als attraktives Feld, das auch neue Karrierechancen eröffnet. Das gilt übrigens auch für Männer.

Gajdek: In Österreich, als auch auf internationaler Ebene, ist der Anteil an Frauen in den Komitees noch immer sehr gering. Doch es gibt eine positive Entwicklung: Bei den Teilnehmenden unter 25 Jahren beträgt der Frauenanteil auf europäischer Ebene über 50 Prozent. Eine erfreuliche Tendenz, die zeigt, dass sich etwas bewegt. Viele Unternehmen achten heute stärker darauf, Frauen gezielt zu fördern. Außerdem gibt es heute mehr weibliche Vorbilder, die zeigen, dass Frauen in der Standardisierung erfolgreich sein können. Das motiviert junge Frauen, sich ebenfalls in diesem Bereich einzubringen.

LEADERSNET: Auf der Website von Austrian Standards werden die Gender-Responsive Standards als Schlüssel zur Geschlechtergerechtigkeit genannt. Was versteht man darunter?

Gajdek: Gender-Responsive Standards berücksichtigen die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Männern gleichermaßen. Das bedeutet, dass Geschlechterunterschiede in der Entwicklung von Standards bewusst berücksichtigt werden, um eine faire und inklusive Standardisierung zu gewährleisten. Wie wichtig das ist, sieht man beispielsweise in der Medizin, wo lange Zeit vor allem männliche Testpersonen genutzt wurden. Oder in der Ergonomie von Arbeitsplätzen, die oft auf männliche Körpermaße angepasst sind. Aber auch im digitalen Bereich ist es wichtig, auf Geschlechtergerechtigkeit zu achten. Algorithmen und KI-Systeme müssen so entwickelt werden, dass sie geschlechtergerecht funktionieren und ohne Verzerrungen arbeiten. Wir von Austrian Standards geben vor, dass in Zukunft bei jedem Projektantrag die Teilnehmenden an der Normung festlegen müssen, ob es sich um einen Gender Responsive Standard handelt. Das klingt nach einem kleinen Schritt, hat aber eine große Auswirkung auf das Mindset, mit dem Standards gemacht werden. Denn alle Teilnehmenden müssen sich gleich zu Beginn mit diesem Thema auseinandersetzen und die Perspektive von Frauen und Männern berücksichtigen. Damit sind wir weltweit eine der ersten Organisationen, die diesen Schritt setzt.

LEADERSNET: Und was ist mit den Standards, die es bereits gibt?

Gajdek: Alle Standards werden regelmäßig auf ihre Aktualität überprüft und im Zuge dieser Überprüfung wird nun auch die Geschlechtergerechtigkeit mitaufgenommen.

LEADERSNET: Zum Abschluss: Wie sehen Sie die Zukunft der Standardisierung in Bezug auf Frauen?

Höllinger: Ich bin optimistisch. Wir sehen bereits positive Entwicklungen, insbesondere bei der jungen Generation. Wir müssen jedoch weiter dranbleiben, damit sich dieser positive Aufwärtstrend in der Standardisierung fortsetzt. Unsere Türen stehen offen, jeder und vor allem jede kann sich einbringen und mitarbeiten!

www.austrian-standards.at

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