LEADERSNET: Sehr geehrte Frau Kraus-Winkler, Salzburg, Hallstatt, Wien – in vielen Destinationen schlägt der Tourismus an die Belastungsgrenze. Gleichzeitig sind ganze Regionen wirtschaftlich auf ihn angewiesen. Sie kennen beide Seiten: die unternehmerische Perspektive und die langfristige Standortentwicklung. Wo liegt aus Ihrer Sicht die "goldene Mitte" zwischen touristischer Wertschöpfung und Lebensqualität der Einheimischen?
Susanne Kraus-Winkler: Österreichs Tourismus ist eine wichtige Säule für den Wirtschaftsstandort und wesentlich für den regionalen Wohlstand. Er schafft Arbeitsplätze und gestaltet den Lebensraum in vielen unserer österreichischen Regionen mit Natur-, Kultur- und Freizeitangeboten für Bevölkerung und Gäste. Der Bevölkerung ist durchaus bewusst, dass der Tourismus auch für die einheimische Bevölkerung viele Vorteile bringt. Insbesondere als Arbeitgeber und für die lokale Infrastruktur, regionale Wertschöpfung etc. All das setzt natürlich voraus, dass es eine Balance zwischen Bevölkerung und ihren Bedürfnissen und den Gästen, die auf Urlaub kommen, gibt. Die Frage ist daher: Wie können wir in Zukunft einen wertschöpfungsstarken und ausbalancierten Tourismus durch mehr Qualität als Quantität entwickeln? Diese Frage stellen sich heute viele Regionen in Europa und jede hat teils unterschiedlichste Lösungswege, siehe eben Südtirol mit den Bettenobergrenzen. In Österreich haben wir hier mehrere Antworten, einerseits wollen wir zu den nachhaltigsten Destinationen weltweit gehören, das impliziert, dass wir hier intensiv Nachhaltigkeitsprogramme mit Betrieben und Regionen weiterentwickeln und die Tourismusakzeptanz konsequent beobachten und entsprechend reagieren. Andererseits wollen wir in Zukunft Digitalisierung und KI zu einer modernen und smarten Besucherlenkung nutzen und letztendlich benötigen wir Angebote und Produkte, die neu gedachte, bewusstere und dennoch spannende touristische Erlebnisse bieten, ohne dass beinahe jeder auf den höchsten Berg, den schwierigsten Klettersteig oder mit dem Auto direkt zur alpinen Hütte fahren will. Hier gibt es bereits tolle erste Entwicklungen, die wir weiter initiieren und ausbauen lernen müssen.
LEADERSNET: Was am besten tun, um Belastungsgrenzen entgegenzuwirken?
Kraus-Winkler: Neben den genannten Aktivitäten ist auch die Förderung des Ganzjahrestourismus, um touristische Hotspots zu entlasten, ein Lösungsansatz. In vielen Ländern und Regionen Europas konzentriert sich der Tourismus saisonbedingt stark auf die Winter- oder Sommermonate, was sowohl für die Betriebe und ihre Arbeitskräfte, aber auch für die regionale Bevölkerung zu einer zeitlichen Belastung führt. Das Ziel sollte ein qualitativ hochwertiger Ganzjahrestourismus sein, indem Reisen in der Nebensaison attraktiver wird. Die Entzerrung der Ferienzeiten innerhalb Europas wäre hier von Vorteil. Ein wichtiger Punkt ist die Ermöglichung von Einheimischen-Tarifen. In stark touristisch frequentierten Gebieten sind Preise für Freizeitaktivitäten, aber auch Wohnungen oftmals teurer, einheimische Tarife können das Leben in Tourismusregionen attraktiver gestalten. Aber auch der Respekt der Gäste gegenüber der lokalen Bevölkerung ist wichtig. Eine große Herausforderung in diesem Zusammenhang stellt auch das Thema Mobilität dar, hier werden wir weiter mit den entscheidenden Stakeholdern an Lösungen feilen müssen.
LEADERSNET: Ein Werkzeug für diese intelligente Steuerung könnte die Digitalisierung sein. Ein oft diskutiertes Mittel wäre etwa die Umsetzung des digitalen Gästeblattes. Wie sieht es bei diesem scheinbar simplen, aber offenbar komplexen Thema aus?
Kraus-Winkler: In Österreich muss sich jeder Gast, der in einem Beherbergungsbetrieb nächtigt, auf Basis des Meldegesetzes und für Zwecke der Tourismus-Statistik-Verordnung melden. Dazu ist derzeit bei der Ankunft im Beherbergungsbetrieb ein Gästeverzeichnisblatt auszufüllen, das laut Meldegesetz vom Gast zu unterschreiben ist. Diese Gästemeldung erfolgt häufig noch in Papierform, auch wenn elektronische Meldungen bereits seit Längerem möglich sind. Mit einem digitalen Gästeblatt hätten wir mit einem Knopfdruck einfachere und unbürokratischere Lösungen für Betriebe und Gäste sowie die Vernetzung der unterschiedlichen Register (Statistik, polizeiliche Meldung etc.) und eine einfachere Auswertung von zusätzlichen Daten, die uns helfen, Tourismus besser zu steuern. Etliche europäische Länder haben hier bereits seit Jahren moderne digitale Lösungen. Ich habe den Prozess zum digitalen Gästeblatt als Staatssekretärin 2022 begonnen, aber die föderalistischen Vorbehalte unterschätzt. Daher ist aus meiner Sicht nun gleichzeitig mit der nationalen Umsetzung der EU-Verordnung über die kurzfristige Vermietung von Unterkünften (kurz: STR-VO), die Ende April 2024 veröffentlicht wurde, auch die Umsetzung des österreichweiten digitalen Beherbergungsregisters für privat und gewerbliche Anbieter und damit auch des digitalen Gästeblattes notwendig. Ich hoffe, Österreich wird hier auch irgendwann einmal wirklich "digital" im touristischen Meldewesen.
LEADERSNET: Laut einer Studie droht bis 2030 ein Fachkräftemangel von über 60.000 Arbeitsplätzen in Hotellerie und Gastronomie. Wie realistisch ist es, diese Lücke zu schließen – und welche unkonventionellen Wege müssen wir dafür vielleicht gehen?
Kraus-Winkler: Wir haben in Österreich einfach nicht genug Menschen, um ausreichende Fach- und Hilfskräfte für den Tourismus zu bekommen. Derzeit kommen rund 44 Prozent der Mitarbeiter aus Österreich, rund 35 Prozent aus dem EU-Inland, rund sieben Prozent aus europäischen Ländern außerhalb der EU und rund 13 Prozent aus Drittstaaten weltweit. Mitarbeiter im Tourismus sind traditionell sehr international. Tourismus ist auch eine Einsteigerbranche für Jung und Alt und für manche auch eine Umsteigerbranche, am Weg in unterschiedliche Berufskarrieren. Der Tourismus ist eine Service- und Dienstleistungsbranche, die standortgebunden ist. Wir müssen daher die Menschen, die wir im Inland nicht finden, aus dem Ausland nach Österreich holen und können nicht wie die Industrie da und dort in die Länder gehen, wo diese Mitarbeiter zu finden sind. Die Lösungen der Zukunft bedeuten, das Arbeitskräftepotenzial im Inland und auch innerhalb der EU als Erstes zu nutzen, dann die Mitarbeiter aus Drittstaaten mit einfachen Prozessen nach Österreich holen.
LEADERSNET: Apropos Zukunft: Der Tourismus verändert sich rasant durch KI, Klimakrise, Individualisierung und Overtourism. Wenn Sie heute ein Hotel ganz neu planen würden – mit all Ihrer Erfahrung und dem Blick auf diese Herausforderungen – wie sähe es aus?
Kraus-Winkler: Es stimmt, wir stehen auch im Tourismus vor revolutionären Veränderungen. Neue Generationen, die mit KI aufwachsen, Digitalyoungsters, die demnächst bis zu 120 Jahren alt werden und die Welt als vernetzte Projektion über grenzenlos scheinende Technologiekreationen wahrnehmen. Derzeit sind wir noch gespalten zwischen der alternden Nachkriegsgeneration mit traditionell geprägten Erwartungen und ebendiesen neuen Generationen mit teils völlig unterschiedlichen, hyperindividualisierten Erlebniserwartungen, wo der Urlaub zum Selbstfindungsort und vielem mehr wird.
Ich habe selbst mehrere Hotels entwickelt, konzipiert und umgebaut bzw. in meiner Zeit als Tourismusberaterin und als Gastlektorin auf der Donauuniversität relativ viele Erfahrungen gesammelt. Wir sehen derzeit viele neue Konzepte, die ein neues Verständnis von Aufenthalt an fremden Orten definieren. ZOKU zum Beispiel hat bei der Hotels-Tomorrow-Konferenz in Paris vor Kurzem hier ein neues, stark lebensraumgeprägtes Konzept als "Platz für Schlafen, Leben, Arbeiten und Vernetzen" vorgestellt. Ich persönlich würde heute in ferientouristischen Standorten smarte und architektonisch außergewöhnliche Boutiquehotels entwickeln, die sich einerseits extrem naturverbunden präsentieren und andererseits hoch individualisierte Erlebniskompetenz ermöglichen. Was die Technologie betrifft, würde ich heute extrem autarke Energie- und Haustechniksysteme integrieren, die den Net-Zero-Kriterien entsprechen. An städtischen Standorten würde ich ähnlich agieren, aber den Community-Faktor stark ausprägen. Wir sehen ...
LEADERSNET: Sie sprechen von Net-Zero-Kriterien – Nachhaltigkeit war in Ihrer gesamten Laufbahn nie nur ein Schlagwort, sondern strategisches Prinzip. Welche Leerstelle in der aktuellen Tourismuspolitik empfinden Sie als die dringendste – und warum gerade diese?
Kraus-Winkler: Das Ziel im Tourismusmasterplan war und ist, dass Österreich zu den nachhaltigsten Tourismusdestinationen der Welt gehört. Dafür habe ich in meiner Zeit als Staatssekretärin einen 4-Säulen-Plan entwickelt: Nachhaltigkeitszertifizierungen für Betriebe, Ausflugsziele, Meetings und vor allem auch für ganze Regionen. Weiters die nunmehr gesetzlich festgeschriebene Tourismusakzeptanzmessung, weiters den ESG-Datahub, um hier standardisierte Daten über einen längeren Zeitraum messen zu können und last but not least die Ausrichtung der Tourismusförderung des Bundes auf nachhaltige Investitionen. Österreich hat im Sustainable Travel Monitor des Euromonitors derzeit den dritten Platz von 99 Ländern weltweit. Diese Ziele gilt es weiterzuverfolgen und bei allen Entwicklungen das Net-Zero-Ziel mitzudenken. Nachhaltigkeit darf aber umgekehrt nicht dazu führen, dass es die Lebensgrundlagen im Wirtschaften zerstört.
LEADERSNET: Hilton, Marriott International, Hyatt und viele andere Hotelketten setzen zunehmend auf ein Asset-Light-Modell. Das bedeutet, dass sie weniger eigene Immobilien besitzen und stattdessen Hotels über Management- und Franchiseverträge betreiben. Was bedeutet dieser Trend für die Hotelbranche?
Kraus-Winkler: 80 Prozent der österreichischen Tourismusbetriebe sind Familienbetriebe, diese sind stark mit ihren Regionen und Standorten verwurzelt. Wir sehen aber auch, dass immer mehr Betreiberhotellerie und -gastronomie mit neuen Konzepten und Marken den österreichischen Markt erobern. Hier geht es um eine gute Balance. Der "Asset-Light-Trend" prägt vor allem die Wachstumsstrategie großer Ketten. Natürlich bleibt dieser Trend in der österreichischen Hotellerie nicht unbemerkt. So spüren klassisch familiengeführte Hoteliers oftmals stärkeren Wettbewerb in Top-Lagen oder mit hohem Potenzial. In Österreich betrifft das vor allem Wien, Salzburg und große Tourismusregionen wie z. B. Kitzbühel. Umgekehrt können die internationalen Markenbetreiber einer Region bzw. einem Standort mit Leitbetrieben und ihrem Marketingvorsprung und ihrer Professionalität einen Vorteil und eine andere Wettbewerbsdynamik bringen. Asset-Light ist ein bedeutender Trend im globalen Wettbewerb. Eine generelle Übernahmebedrohung in Österreich besteht nicht pauschal, wohl aber könnte der oftmals nachgewiesene wirtschaftliche Druck (Schere Umsatz/Ertrag) oder fehlende Betriebsnachfolger einzelne Verkäufe forcieren.
LEADERSNET: Was sind die zentralen Projekte oder Veränderungen, die Sie für die kommende Saison und darüber hinaus forcieren wollen, damit Österreich nicht nur Urlaubsziel bleibt, sondern auch Lebensqualität stiftet – für Gäste ebenso wie für Einheimische?
Kraus-Winkler: Unser erklärtes Ziel ist, dass vom Tourismus alle Beteiligten profitieren: Gäste und Gastgeber:innen, Land und Stadt, Mitarbeiter:innen, regionale Partner:innen und Stakeholder:innen. Wir müssen klare Vorstellungen von gesetzlichen Rahmenbedingungen und Zukunftsvisionen haben, um dieses Ziel zu erreichen. Die Hauptaufgaben für mich als Bundesspartenobfrau liegen daher vor allem in den Bereichen Arbeitsmarkt, Nachhaltigkeit inklusive Tourismusakzeptanz, Digitalisierung und KI, sowie beim Bürokratieabbau.
www.wko.at
Kommentar veröffentlichen