Ist die EU-Erweiterung eine kluge Entscheidung?

| Redaktion 
| 20.11.2022

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Die Europäische Union ist seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine enger zusammengerückt. Das Wir-Gefühl wurde gestärkt. Wir gegen Putin. Wir, die demokratische Werte leben, gegen die Autokratie. Wir, die wir uns für Frieden starkmachen, gegen die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Tausenden von Opfern. Die Europäische Union als Bollwerk gegen Russland. Und dieses Bollwerk soll nun wieder wachsen.

Sieben Beitrittsstaaten

Sieben Staaten haben sich als Beitrittskandidaten beworben. Dazu gehören seit Jahren Serbien, Albanien, Montenegro sowie Nordmazedonien. Vor einem halben Jahr sind die beiden Staaten Ukraine und Moldau hinzugekommen. Potenzielle Kandidaten sind Bosnien-Herzegowina und Georgien. Kosovo plant ebenfalls einen Antrag. Die Türkei ist seit 1999 Beitrittskandidat, die Verhandlungen liegen jedoch seit sieben Jahren auf Eis.

Doch ist die EU-Erweiterung eine kluge Entscheidung? Macht dies die Europäische Union stärker oder schwächt es sie massiv? Der Zusammenhalt, seitdem Russland den Krieg vom Zaun gebrochen hat, ist zwar ein Bekenntnis zu demokratischen Werten, aber wir wissen auch alle, dass es hinter den Kulissen brodelt. Die EU hat, auch ohne mit einer gigantischen Ausdehnung gen Osten zu liebäugeln, mit vielen Herausforderungen und Problemen zu kämpfen: Fragwürdige Einstellungen zu Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn, Berichte über Korruption in Ländern wie Bulgarien und Rumänien, Geldverschwendung in der Verwaltung, überbordende Bürokratie und kostenintensive sowie schwer nachvollziehbare Prozedere wie das monatliche Pendeln der Parlamentarier zwischen Brüssel und Straßburg. Und nicht zu vergessen – das Prinzip der Einstimmigkeit, das sehr oft hemmt. Dazu kommt noch eine gemeinsame Währung, die die Inflation befeuert, sowie verschuldete Staaten, die am meisten von der EU profitieren. Es gäbe hier noch hunderte von Punkten, die zeigen würden, dass das System EU nicht perfekt ist.

"Aber"

Dann gibt es dieses "aber", welches stärker ist als alle genannten Einwände und für die ich als überzeugter Europäer einstehe: Ohne Europäischer Union könnte in wirtschaftlich und politisch turbulenten Zeiten wie diesen kein Land überleben. Dabei möchte ich auch mal kurz an die Vergangenheit erinnern. Alle Staaten, die der EU beigetreten sind, haben einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Man schaue sich nur Österreichs wirtschaftliche Entwicklung seit 1995 an. Was auch nicht außer Acht zu lassen ist: Nur ein starkes geeintes Europa kann gemeinsam die Freiheit und die demokratischen Werte verteidigen. Dabei würde ich sogar so weit gehen, dass neben der NATO eine europäische Armee geschaffen werden sollte.

Das bedeutet, wir müssen an eine Erweiterung denken und auch aufhören, Länder wie z. B. Serbien stiefmütterlich zu behandeln. Klar muss aber sein: Wir dürfen nicht die gleichen Fehler begehen, wie wir sie in der Vergangenheit gemacht haben. Es gibt ganz klare Kriterien für einen Beitritt, wie die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte, die Meinungsfreiheit und die wirtschaftlichen Fähigkeiten eines Landes. Diese müssen ohne „Wenn und Aber“ ernst genommen und eingehalten werden. Auch wenn es dazu etwas mehr Zeit bedarf, diese Zeit müssen wir uns nehmen, um wirklich 100 Prozent sicher zu sein, dass das jeweilige Land auch wirklich reif für einen Beitritt ist.

Aber auch die EU muss sich ändern. Sie muss sich selbst eine Bürokratie-Entschlackungskur verordnen, das Subsidiaritätsprinzip muss ebenfalls gewahrt und den Mitgliedsstaaten mehr Autonomie gewährt werden, dort wo es sinnvoll ist. Und das ist es sehr oft!

Das Abstimmungsverfahren muss reformiert werden und es muss klare Regelungen geben, was die Verschuldung von Staaten betrifft. Denn wir wollen kein zweites Italien oder Griechenland. Klar ist, auch die EU lernt aus ihren Fehlern der Vergangenheit, aber trotzdem ist es Zeit, weitreichende Reformen einzuläuten und diese auch umzusetzen. Denn nur dann kann eine EU-Erweiterung Europa stärken. Ich mag dieses Wort normalerweise nicht, aber eine moderne große EU ist alternativlos!

Aus gutem Grunde ziehe immer wieder gerne Parallelen zur Wirtschaft und zur Unternehmensgeschichte von JTI. Erweiterungen sind auch hier Teil der Erfolgsgeschichte, die aber eben nur funktionieren konnten, weil sie gut überlegt waren und man aus Fehlern gelernt hat. 238 Jahre JTI Austria bestätigen das.

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