LEADERSNET-AEHRE-KOOPERATION
Einfach inklusiv – Und Ihr so?

Das neue aehre Nachhaltigkeits-Businessmagazin ist da. Im Rahmen der Kooperation zwischen LEADERSNET und aehre dürfen sich die Leser:innen dieses Mal auf einen Beitrag über das Ikea Distribution Center in Wels freuen, wo seit vergangenem Juni sieben gehörlose Mitarbeiter:innen Pakete versandfertig machen.

LEADERSNET veröffentlicht nun regelmäßig Interviews, Porträts und Servicegeschichten von aehre. Dabei befasst sich das Nachhaltigkeits-Businessmagazin stets mit einem der zentralen Themen der Gegenwart: Nachhaltigkeit, in all ihren Facetten von Environment über Social bis Governance.

Nachdem es beim vergangenen Mal um Veranstaltungen mit einem grünen Gewissen gegangen war, besucht aehre dieses Mal das IKEA Distribution Center in Wels, wo seit vergangenem Juni sieben gehörlose Mitarbeiter:innen Pakete versandfertig machen. aehre hat sich angesehen, wie die Inklusion hier gelingt, was noch fehlt und wie die gehörlosen Menschen selbst über ihren Job denken.

 

Reportage Julia KropiK

Morteza steht in einer großen, nagelneuen Lagerhalle an einem Fließband und schlichtet Artikel in Kartons – von der Nachttischlampe bis zum Einlegeboden für das Bücherregal. Staplerfahrer biegen aus dem hinteren Bereich der Halle um die Ecke und bringen laufend Nachschub. Morteza träumt davon, selbst irgendwann einer davon zu sein. Derzeit gefällt ihm aber sein Job, und er ist froh, dass er hier angekommen ist. Sein Kollege Soner, der in dieser blau-silbernen Halle gemeinsam mit ihm in Schichtarbeit die Pakete für den Versand an Endkund:innen vorbereitet, sieht seine Zukunft bei Ikea eher in der Wartung des umfangreichen Maschinenparks. Döndü hingegen ist gerade sehr zufrieden: Endlich sind etwas Ruhe und Routine eingekehrt, findet sie. Neue Arbeit, neues Team, neue Sprache, ein Umzug, dann noch die Familie – die Salzburgerin ist letztes Jahr ganz schön ins Schwitzen gekommen. Dass bei Ikea das Verständnis für persönliche Bedürfnisse groß ist, habe ihr sehr geholfen.

All dies erzählen uns die drei nicht persönlich, wir kommunizieren über eine Dolmetscherin für Gebärdensprache. Soner und Döndü sind schwerhörig, Morteza gehörlos, ebenso wie Larysa, Serhii, Svitlana und Igor aus der Ukraine. Und an dieser Stelle lernen wir in Sachen Inklusion gleich etwas dazu: Denn es gibt nicht nur unterschiedliche Gebärdensprachen, sondern auch verschiedene Dialekte. Für die vier Ukrainer:innen, die früher etwa als Taxifahrer:innen, in einer Fleischfabrik, im Sägewerk oder als Handwerker:innen gearbeitet haben,
besonders herausfordernde Voraussetzungen.

Jobs für ein selbstbestimmtes Leben

Im gesamten DACH-Raum gibt es über 15 Millionen Menschen mit Behinderung. Durchschnittlich leben aber nur zwei Prozent aller Menschen mit Behinderung damit von Geburt an. "Das zeigt, dass sich das Leben für jede und jeden von uns schlagartig ändern kann – und dann möchte man doch weiterhin ein möglichst eigenverantwortliches Leben führen", findet Nicole Steger, Equality, Diversity & Inclusion Leader bei Ikea Österreich. Umso wichtiger sei es, dass Unternehmen ein inklusives Arbeitsumfeld schaffen, in dem sich Menschen wertgeschätzt, respektiert und unterstützt fühlen – egal, ob sie nun im Rollstuhl sitzen, gehörlos, blind oder zuckerkrank sind.

»Wir alle haben ein Recht auf ein eigenverantwortliches Leben.« Nicole Steger, E, D & I Leader bei Ikea Österreich

Maßnahmen, die ein inklusives Arbeitsumfeld schaffen, gibt es viele. Das beginnt beim Führungsansatz und geht von hybriden Arbeitsmodellen mit flexiblen Arbeitszeiten und -orten bis hin zu zielgerichteten Lernangeboten. Wie aber gelingt ein inklusives Miteinander in einem großen, hektischen Warenlager?

Wie Menschen mit einer Behinderung umgehen, ist individuell

Ikea Österreich beschäftigt aktuell rund 3.500 Mitarbeiter:innen. Das macht das schwedische Unternehmen zu einem der größten Arbeitgeber im heimischen Möbelhandel. Laut gesetzlicher Regelung müsste Ikea damit insgesamt 140 Personen mit Behinderung beschäftigen. Aktuell sind es offiziell 93 – wobei Nicole Steger sagt, dass diese Quote dennoch schon erfüllt sein könnte: "Es ist sehr individuell, wie Menschen mit ihrer Behinderung umgehen, ob sie offen darüber sprechen oder das Handicap lieber für sich behalten – gerade, wenn es nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Denn Zuckerkrankheit oder ein künstlicher Darmausgang zählen ebenso zu einer Behinderung von über 50 Prozent wie etwa Gehörlosigkeit."

© CM Visuals – Simon Laabmayr
Inklusion ist kein Sozialprojekt. Ikea schafft mit einem inklusiven Arbeitsumfeld die richtigen Voraussetzungen, damit auch die Produktivität stimmt © CM Visuals – Simon Laabmayr

Den richtigen Arbeitsbereich finden

Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der sieben neuen Mitarbeiter:innen spielte Edith Zwieb von der Arbeitsassistenz, einem Service des Sozialministeriums. Ikea ist einer ihrer besten "Kunden", sie ist oft hier in Wels, um bei der Inklusion zu unterstützen. Eingestellt wurden die sieben von Warehouse-Managerin Barbara Jordan: "Diversity und die Inklusion von Menschen mit Behinderung sind Themen, die mich auch persönlich beschäftigen", sagt sie. Bevor die neuen Kolleg:innen angestellt wurden, beriet eine interne Arbeitsgruppe darüber, welchen Beitrag der Standort zur Inklusion von Menschen mit Behinderung leisten kann – und was überhaupt schaffbar ist. "Wir sind ja ein großes Warehouse und kein kleines
familiäres Unternehmen. Wir mussten uns gut überlegen, welche Arbeitsbereiche für Menschen mit Behinderungen geeignet und sicher sind", erklärt Jordan. Außerdem hatte man an dem Standort bereits sehr gute Erfahrungen mit gehörlosen Mitarbeiter:innen gemacht. Dass es dann aber gleich sieben hörbe­hinderte Personen in einem Team von insgesamt 54 Mitarbeiter:innen für den neu gegründeten Parcels­ Bereich waren, findet Barbara Jordan mutig.

Inklusion und Sicherheit müssen Hand in Hand gehen

"Sicherheitstechnisch müssen wir top aufgestellt sein", unterstreicht die Warehouse-Managerin. Es klingt einleuchtend, wird einem aber erst bei genauerer Überlegung bewusst: Eine gehörlose Person nimmt zum Beispiel das Hupen eines Staplers nicht wahr – ein potenzielles Sicherheitsrisiko, wenn gerade in den frühen Morgenstunden in der Halle Hochbetrieb herrscht. Dasselbe gilt für einen Feueralarm. Um die Sicherheit zu erhöhen, tragen Morteza, Soner, Döndü und ihre gehörlosen Kolleg:innen etwa Bänder am Handgelenk, mit denen sie im Notfall selbst einen Alarm auslösen können, um auf sich aufmerksam zu machen.

© CM Visuals – Simon Laabmayr
Inklusion ist immer Teamarbeit: Edith Zwieb, Nicole Steger, Svitlana, Larysa, Döndü, Barbara Jordan, Soner, Serhii, Igor, Lisa Kinzl und Morteza (v.l.n.r.) © CM Visuals – Simon Laabmayr

Chancengerechtigkeit schaffen

Generell will Ikea die Inklusion von Menschen mit Behinderung aber nicht als Sozialprojekt verstanden wissen – die Produktivität muss stimmen. "Wir sind hier keine geschützte Werkstatt und von den gehörlosen Mitarbeiter:innen wird dieselbe Leistung erwartet, wie von den anderen auch", sagt Nicole Steger. Wichtig sei aber, dass das Unternehmen die entsprechende Infrastruktur schaffe, damit genau das erreicht werde.

Die Integration eines neuen Bereichs mit einem neuen Team an einen bestehenden Standort birgt schon so manche Herausforderung. Wenn dabei 30 Nationalitäten aufeinandertreffen und es dazu Beschäftigte mit Behinderungen gibt, sollte man als Unternehmen schon besonders gut vorausplanen.

Sensibilisierung für die Hörenden

Bei Ikea gab es deshalb unter anderem einen vorbereitenden Workshop. Gabriel Grgic war als direkter Vorgesetzter der gehörlosen Mitarbeiter:innen mit dabei. Vor allem das Sensibilisierungstraining ist ihm in Erinnerung geblieben: Mit Kopfhörern wurde die Realität einer gehörlosen Person simuliert – für den Teamleiter ein Aha-Moment und eine wichtige Erfahrung. "Ich wusste ja nicht, was mich erwartet", erzählt er, schließlich habe er zuvor noch nie gehörlose Kolleginnen und Kollegen in seinem Team gehabt.

In der bewusst auf drei Tage aufgeteilten Einschulungsphase war neben Edith Zwieb von der Arbeitsassistenz außerdem immer ein Dolmetscher anwesend. "Wir haben darauf geachtet, es ruhig anzugehen, um das Stresslevel zu Beginn möglichst gering zu halten", sagt Barbra Jordan. Heute ist die Zusammenarbeit mit den gehörlosen Mitarbeiter:innen für den Teamleiter Gregor Grgic kaum anders als mit dem Rest des Teams. Kommuniziert wird per Übersetzungs-App auf dem Handy. Und auch Igor springt immer mal wieder ein, denn er beherrscht die österreichische Gebärdensprache am besten und dolmetscht für seine ukrainischen Kolleginnen und Kollegen.

Im Mai wird es außerdem einen Gebärdensprachenkurs für alle hörenden Mitarbeiter:innen geben. Das Interesse und die Bereitschaft zum Lernen sind groß, über 30 Anmeldungen gibt es bereits. "Viele kennen schon einige Basics, wie etwa 'Applaus' oder 'Danke'", sagt Barbara Jordan.

© CM Visuals – Simon Laabmayr
Hej Inklusion. Ob die Inklusion gelingt wie geplant und was noch verbessert werden muss, erfährt Nicole Steger im persönlichen Gespräch an den einzelnen Ikea-Standorten © CM Visuals – Simon Laabmayr

Wo die Reise hingeht

Ist die Inklusion hier also schon restlos geglückt? Natürlich gibt es auch Herausforderungen im Arbeitsalltag, auf die man sich nicht so gut vorbereiten kann. Zum Beispiel spontane Abstimmungsgespräche zwischendurch. Da kann es schon passieren, dass von den Gehörlosen erwartet wird, dass sie einfach durch Lippenlesen alle Inhalte mitbekommen – was nicht vorausgesetzt werden kann. „Man kann grundsätzlich nur etwa 30 Prozent über das Lippenlesen verstehen. Werden die hörbehinderten Beschäftigten dann nicht aktiv miteinbezogen, besteht die Gefahr, dass wichtige Informationen schlecht oder gar nicht verstanden werden und sie sich ausklinken“, meint Lisa Kinzl aus dem lokalen HR-Team. Döndü findet jedenfalls, dass sie mit der einen Hälfte der hörenden Kolleginnen und Kollegen sehr gut auskommt, während es mit der anderen Hälfte – vor allem der alteingesessenen Mannschaft – manchmal schwieriger ist. Konflikte sind also nicht immer auszuschließen.

Gesucht: Vertrauensperson

Was auf dem Weg zur weiteren Inklusion noch fehlt? Eine fixe Stelle für eine Vertrauensperson, an die sich alle beeinträchtigten Mitarbeiter:innen jederzeit wenden können, sind sich alle einig. "Wir suchen bereits intensiv und unser großer Wunsch ist es, dass diese Person auch die Gebärdensprache beherrscht. Das würde vieles in der Kommunikation erleichtern", ist sich Barbara Jordan sicher. Denn gerade in Konfliktsituationen ist die Vertrauensbasis entscheidend. Aktuell kommt in solch einem Fall, aber auch für reguläre Jahresgespräche, ein externer Dolmetscher ins Haus – und das ist jedes Mal jemand anders.

© CM Visuals – Simon Laabmayr
Business as usual? Nach einem aufregenden Start ist das Team nun gut eingespielt – Zeit für neue Pläne © CM Visuals – Simon Laabmayr

Wenn es diese Vertrauensperson also einmal gibt und der neue Parcels-Bereich gut eingespielt ist, sind Barbara Jordan sowie ihre Kolleginnen und Kollegen durchaus offen dafür, das Team um weitere gehörlose Personen zu erweitern. Bewerbungen aus der Gehörlosen-Community hätten sie jedenfalls genug.  – 

Mehr zum Thema Nachhaltigkeit finden Sie im Nachhaltigkeits-Businessmagazin aehre auf www.aehre.media und in der neuen Ausgabe, die sowohl am Kiosk erhältlich als auch am 26. Juni 2025 dem "Der Standard" beigelegt ist. 

aehre – das Nachhaltigkeits-Businessmagazin

Themen: Environmental-, Social- und Governance

Geschäftsführerinnen: Maria-Grazia Nordberg und Annabel Köle-Loebell

Gründung: März 2023

Praterstrasse 66/5

1020 Wien

Tel.: +43 1 890 44 06

Kontakt: hello@aehre.media

Homepage: www.aehre.media

Fakten

1,3 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben in Österreich

450 Tausend Menschen in Österreich leben mit einer Hörbehinderung, davon sind etwa 8.000 bis 10.000 gehörlos

Zum Arbeitsrecht

In Österreich gilt die gesetzliche Regelung, dass Unternehmen je 25 Mitarbeiter:innen jeweils eine Person beschäftigen müssen, die den Status eines sogenannten begünstigten behinderten Arbeitnehmers erfüllt. Das sind Menschen mit einem behördlich festgestellten Grad der Behinderung von 50 Prozent. Erfüllt der Dienstgeber die gesetzlich vorgesehene Beschäftigungspflicht nicht, hat er für jede begünstigte Person, die zu beschäftigen wäre, ab 400 Beschäftigten eine Ausgleichstaxe in Höhe von 435 Euro monatlich zu bezahlen. (Stand 2022).

Ein Wort zur Wortwahl

Wir halten es mit dem Wort "Behinderung" wie die Mitarbeiter:innen von Ikea oder etwa auch das Social Enterprise myAbility: Eine Behinderung ist nichts, was es zu verstecken, zu verschönern gilt.  Ebenso soll dieses Wort kein ungutes Gefühl auslösen. Also keine Angst vor dem Wort "Behinderung".

 

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Fakten

1,3 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben in Österreich

450 Tausend Menschen in Österreich leben mit einer Hörbehinderung, davon sind etwa 8.000 bis 10.000 gehörlos

Zum Arbeitsrecht

In Österreich gilt die gesetzliche Regelung, dass Unternehmen je 25 Mitarbeiter:innen jeweils eine Person beschäftigen müssen, die den Status eines sogenannten begünstigten behinderten Arbeitnehmers erfüllt. Das sind Menschen mit einem behördlich festgestellten Grad der Behinderung von 50 Prozent. Erfüllt der Dienstgeber die gesetzlich vorgesehene Beschäftigungspflicht nicht, hat er für jede begünstigte Person, die zu beschäftigen wäre, ab 400 Beschäftigten eine Ausgleichstaxe in Höhe von 435 Euro monatlich zu bezahlen. (Stand 2022).

Ein Wort zur Wortwahl

Wir halten es mit dem Wort "Behinderung" wie die Mitarbeiter:innen von Ikea oder etwa auch das Social Enterprise myAbility: Eine Behinderung ist nichts, was es zu verstecken, zu verschönern gilt.  Ebenso soll dieses Wort kein ungutes Gefühl auslösen. Also keine Angst vor dem Wort "Behinderung".

 

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