"In vielen Medien hat sich das Bekenntnis zu einer samtig-weichen Erleichterungspädagogik durchgesetzt", kommentierte der österreichische Philosoph Liessmann vor wenigen Tagen die Diskussion um die Wiedereinführung der mündlichen Matura. Eine Grazer Maturantin konterte umgehend und forderte dazu auf, nicht ständig über sondern endlich einmal mit den Jugendlichen zu sprechen – schließlich ist es ihre Zukunft, um die sich alles dreht. Die Bruchstellen, welche die Pandemie im Bildungssektor verursacht hat, sind beängstigend und werden noch viele Jahre nachwirken – und das geht die ganze Gesellschaft an.
Zu wenig fordernd und bietet jungen Menschen nicht genug
Mein Blick auf das Bildungssystem ist nicht erst seit Beginn der Pandemie ein kritischer. Es ist aus meiner Warte zu wenig fordernd, bringt wenig Qualität und bietet aber auf der anderen Seite jungen Menschen nicht genug. Darüber hinaus ist das Abitur bzw. die Matura in Österreich doch nur die Hälfte wert, wenn die eigentlichen Noten keine Auswirkungen haben. Zudem wird die Matura heute über- und die Lehre unterbewertet. Manches ist aus dem Gleichgewicht gekommen und den meisten ist nicht klar, dass Bildung eine Holschuld der jungen Menschen und eine Bringschuld der Gesellschaft ist. Dies alles hat sich in der Pandemiezeit verschärft: Mit den Begriffen Homeschooling oder Distance-Learning konnten wir bis vor ungefähr zwei Jahren nicht wahnsinnig viel anfangen. Schnell hat sich dann aber gezeigt, wie katastrophal es um die digitale Ausrüstung und die damit verbundenen Skills unserer so genannten Digital-Natives steht. Erst mal mussten viele Schüler:innen mit einem großen Stapel kopierter Unterlagen losziehen, dann erst wurden Laptop-Beschaffungsaktionen organisiert, damit alle zumindest die gleichen Chancen haben, überhaupt am Unterricht teilzunehmen. Ist das gelungen? Ich fürchte nicht. Und auch wenn komplette Schulschließungen derzeit nicht das beherrschende Thema sind, vom Normalbetrieb sind wir noch meilenweit entfernt. Darum sehe ich den Zeitpunkt noch nicht gekommen zu sagen: "Jetzt reicht’s aber mal mit Samthandschuhen", und der Jugend vorzuwerfen, dass sie "angeblich von der Pandemie schwer getroffen sei", halte ich für zynisch. Damit erreicht man höchstens eine weitere Spaltung der Gesellschaft, nämlich der Jugend von den Erwachsenen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. Und das, obwohl gerade die Jungen große Impfbefürworter sind und kein Verständnis für Impfverweigerer haben – weil sie wieder Normalität wollen, und zwar umfassend, von der Schule bis zur Party.
Viele wissen nicht mehr wieso sie lernen sollen
In jeder Gruppe von Menschen gibt es ambitionierte und solche, die fünf auch mal gerade sein lassen, dazwischen liegt eine große Menge, die wir als Durchschnitt bezeichnen. Losgelöst von der prinzipiellen Qualität des Bildungssystems ist es katastrophal, wenn die grundsätzliche Perspektive fehlt, und das tut sie derzeit schmerzlich, denn dann verschiebt sich diese Verteilung leider an das untere Ende. "Viele wissen nicht mehr, wieso sie lernen sollen, wenn sie das Gefühl haben, keine Zukunft zu haben", hat es besagte Maturantin auf den Punkt gebracht. Die Schuld ist dabei nicht ausschließlich bei den Jungen zu suchen. Unterricht aus der Ferne, im Schichtbetrieb in einer halb besetzten Klasse, mit Maske, oder welche Modelle in den vergangenen zwei Jahren noch so ausprobiert wurden, kann qualitativ nicht dasselbe leisten, wie "normaler" Unterricht. Denn immer muss auf die "Benachteiligten" nochmal besonders Rücksicht genommen werden, zum noch größeren Leidwesen der Fleißigen und Wissbegierigen, wohingegen die, die immer schon Faulpelze waren, eine Reihe neuer Ausreden geliefert bekommen.
Neue Normalität
Eine Rückkehr zur Normalität bzw. dem, was wir früher darunter verstanden haben, wird es vermutlich nicht geben. Was es aber geben wird, davon bin ich überzeugt, ist eine neue Normalität, ein Leben, in dem Corona ein Nebenschauplatz und nicht das Hauptthema ist. Diesen Glauben und diese Zuversicht gilt es, der jungen Generation mitzugeben, ihnen Perspektiven zu vermitteln und zu zeigen, dass Bildung im Allgemeinen und eine fundierte Ausbildung im Besonderen der Schlüssel dazu ist – egal ob im Sinne einer akademischen Laufbahn oder eines Lehrberufes. Jedes Unternehmen lebt von der Diversität und den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter*innen – und den Wunsch, dieses zu erreichen und sich als wertgeschätztes Individuum einzubringen, den müssen wir in den jungen Menschen wecken, anstatt sie zu bedauern. Es ist nicht unsere Aufgabe als Politiker*innen, Wirtschaftstreibende, Pädagog*innen und Eltern, die Hürden aus dem Weg zu räumen, sondern ein positives Bild der Zukunft zu zeichnen. Das ist das Wirkprinzip der self-fulfilling prophecy, das wir zum Wohle der ganzen Gesellschaft anstreben sollten. Wenn wir dies berücksichtigen und es schaffen, die Bring- und Holschuld der Bildung ins Lot zu bringen, dann werden wir hoffentlich alle davon profitieren.
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