"Im Krieg, in der Liebe und in der Beschaffung während der Corona-Krise ist alles erlaubt"

Rechtsanwalt Martin Schiefer im Interview über das Dilemma von fehlenden Schutzausrüstungen, zu wenigen Impfdosen und fehlerhaften chinesischen Masken und wie in diesem Zusammenhang das Vergaberecht zum Gamechanger wird.

Im März 2020 fehlten  Schutzausrüstungen für das medizinische Personal, dann sorgten die zweifelhafte Herkunft und Zuverlässigkeit der chinesischen Masken für Aufsehen, gefolgt von Antigen-Tests für die ersten Massentests, fehlenden FFP2-Masken für die angekündigte Versorgung aller 65+ Österreicherinnen und Österreicher bis hin zu den Impfdosen, die nun nicht in der richtigen Menge zur Verfügung stehen. LEADERSNET hat angesichts dieser Vorfälle den Spezialisten für Vergaberecht, Rechtsanwalt Martin Schiefer, zum Interview gebeten.

LEADERSNET: Warum kann das Vergaberecht der Gamechanger der Corona-Krise sein?

Schiefer: Die Corona-Krise zeigt jetzt ganz klar die Bedeutung und die Dimension des Vergaberechts. Es startete mit der Diskussion um die Schutzausrüstungen für die Ärzte – wo waren diese so schnell herzubekommen? Es folgte eine unendliche Zahl an Berichten zu den FFP2-Masken – woher kommen sie, was können sie, was kosten sie? Massentests wurden angekündigt – doch wo wurden die Kits bestellt, was wurde dafür gezahlt? Und nicht zuletzt ist die Impfstoff-Beschaffung der Europäischen Union heute jenes Thema, das uns alle beschäftigt.

LEADERSNET: Masken, Impfstoff und Co.: Wie ist es möglich, dass es in Österreich aktuell so viele Pannen hinsichtlich der Beschaffung gibt?

Schiefer: Am Anfang gab es viele Ausreden für das nicht perfekte Funktionieren der Beschaffung. Das war auch irgendwie legitim, denn die Krise hat keiner vorausgesehen und hat uns alle überraschend getroffen. Zum einen gibt es für solche Situationen Lösungen, aber was nicht zu verstehen ist: Warum funktioniert es noch immer nicht? Nach zehn Monaten! Wir haben eine neue Normalität, Abnormalität, und für alle Einkäufer und Beschaffer gab es genug Zeit, sich darauf vorzubereiten, sich dafür einzurichten. Denn egal ob Krise, "Normalität" oder "Abnormalität", eine professionelle Vergabe, ein perfekter Einkauf funktioniert immer gleich – auch wenn sich die Zeiten und Gegebenheiten ändern, die Prinzipien bleiben.

LEADERSNET: Was macht einen guten Einkäufer aus?

Schiefer: Ein guter Einkäufer muss innovativ sein, das Geschäft seines Anbieters kennen, vorausschauend planen, nahe an den Entscheidungsträgern sein und natürlich über Verhandlungsgeschick verfügen. Der Einkauf ist eine hoch spezialisierte Einheit, die ganz oben angesiedelt sein muss.

LEADERSNET: Ist Vergabe also eigentlich als strategischer Prozess zu sehen?

Schiefer: Es werden strategische Entscheidungen getroffen, die den Unterschied machen. Der Unterschied ist, ob unsere Ärzte ausreichend geschützt sind, ob wir für Massentests genügend Kits haben, ob wir den vulnerablen Gruppen die richtigen FFP2-Masken zur Verfügung stellen, deren Zertifizierung man trauen kann. Und mit einem perfekten Vergabeprozess kann man dafür sorgen, dass die Bevölkerung so rasch wie möglich eine entsprechende Durchimpfungsrate erreicht.

LEADERSNET: Zurück zur "Corona-Krise"-Ausrede. War diese zur Beginn der Pandemie legitim?

Schiefer: Sie mag wohl in den ersten Wochen legitim gewesen sein, aber wir hatten nun schon wahrlich genug Zeit, uns auf die zweite Welle – oder welche ist das gerade – vorzubereiten. Der erste Lockdown feiert demnächst seinen ersten Jahrestag, aber von einer funktionierenden Beschaffung sind wir nach wie vor noch weit entfernt. Seit zehn Monaten diskutieren wir – viel zu wenig – warum was nicht da ist, wo es herkommt, was es kostet. Die Ausrede, die wir vielfach zu hören bekommen: die Corona-Krise. Das erinnert an das Napoleon zugeschriebene Sprichwort: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Müssen wir das Zitat 2021 tatsächlich ergänzen mit: Im Krieg, in der Liebe und in der Beschaffung während der Corona-Krise ist alles erlaubt?

LEADERSNET: Aber ist es wirklich möglich in so einer Ausnahmesituation, gute korrekte Vergaben durchzuführen?

Schiefer: Als Vergaberechtler, der sich seit über 20 Jahren mit Beschaffung und Einkauf beschäftigt, kann ich versichern, dass es auch in Pandemiezeiten durchaus möglich ist, transparente und rechtskonforme Vergaben durchzuführen.

LEADERSNET: Wie kann eine perfekte Vergabe aussehen? Welche Aspekte treten dabei in den Vordergrund?

Schiefer: Mit professioneller Beschaffung könnte man sogar Werte wie Regionalität und Nachhaltigkeit aktiv voranbringen. Eine perfekte Vergabe hätte die Kraft und die Möglichkeit, Sicherheit und Freiheit während der Pandemie zu geben und sie schlussendlich früher zu besiegen. Nur schade, dass ich das alles im Konjunktiv sagen muss, denn die Pandemie hat uns vor Augen geführt, was passiert, wenn Beschaffung nicht professionell aufgesetzt ist und nicht perfekt funktioniert. (jw)

www.schiefer.at

Gute Bestandsaufnahme, aber leider kein Hinweis warum es auch nach 1 Jahr noch "keine professionellen Einkauf" in diesem Bereich gibt.
Liegt das am Kompetenzdschungel im Gesundheitssystem oder an den öffentlichen Beschaffungsrichtlinien? Den meisten Akteuren im öffentlichen Gesundheitsbereich kann man ja wohl nicht Unfähigkeit oder böse Absichten nachsagen!

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