Lasset uns beten …

| 06.02.2019

expressis verbis von Christian Zsovinecz.

Als ich noch ein Kind war, haben wir jedes Wochenende meine Großeltern in Grund – eine kleine Ortschaft im Bezirk Hollabrunn – besucht. Mein Großvater hat uns dabei immer sehr herzlich begrüßt. Beim Busserl auf die Wange roch er nach "Pitralon"-Rasierwasser, denn bevor die Enkel zu Besuch kamen rasierte er sich immer.

Als wir am Abend gemeinsam die "ZiB" schauten, sagte er oft zu mir: "Bursche, früher war alles besser." Darüber lässt sich natürlich vortrefflich diskutieren, ob früher wirklich alles besser war, aber angesichts seiner Vergangenheit finde ich bewundernswert, wie zufrieden er mit seinem Leben war. Als Kind kam er ins Heim und mit 16 Jahren musste er einrücken – aber nicht um in einer Kaserne Zeit totzuschlagen, sondern weil damals in Europa ein schrecklicher Krieg tobte. Diesen  überlebte er glücklicherweise und was folgte, war ein Leben, das von harter Arbeit geprägt war. Er besaß nie ein tolles Auto und fuhr auch nie in Urlaub. Seine Ersparnisse steckte er in den Bau eines wunderschönen Hauses und in die Ausbildung seiner drei Kinder. Er hat sich keine Sekunde darüber beklagt.

Und umso erstaunenswerter ist seine Aussage, dass "früher alles besser" gewesen sei. Aber was er damit möglicherweise gemeint hat, habe ich verstanden, als ich neulich auf einem Klassentreffen war. Von 16 Burschen und sieben Mädels, die mit dabei waren – alle so wie ich Ende 20 – gehen tatsächlich nur vier Leute einer geregelten Arbeit nach (mich bereits eingerechnet). Alle anderen studieren entweder noch, sind so eben von einer Weltreise, die Mama und Papa gezahlt haben, zurückgekommen oder sind gerade in Karenz. Dennoch hatte fast jeder ein mehrere 100 Euro teures Smartphone in der Hand, fährt mindestens zwei Mal im Jahr in Urlaub und lenkt ein tolles Auto.

Tatsächlich ist es aber auch so, dass von den 23 Menschen, die beim Klassentreffen mit dabei waren, nur vier eine Einkommenssteuer entrichten und ins Sozialsystem einzahlen. Ich hoffe inständig, dass nicht alle Klassentreffen in diesem Land so aussehen, weil dann können wir bald das Finanzministerium zusperren. Denn wenn gut 80 Prozent der Endzwanziger noch so gut wie nichts einbezahlt haben, aber mit 55 Jahren sich schon Richtung Ruhestand orientieren wollen, dann lasset uns beten.

P.S. Eine meiner Ex-Klassenkameradinnen ist übrigens Influencerin. Wenn ich meinem Opa erzählt hätte, dass ich Influencer werden möchte, hätte er wahrscheinlich geglaubt, die Grippe ist im Anmarsch.

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