Ich sage es ohne Umschweife, ohne Beschönigungen und ohne rosarote Brille – denn diese müssen wir endlich absetzen: Unsere Gesellschaft wird immer abgestumpfter, oberflächlicher und distanzierter, sie driftet in eine gefährliche Gleichgültigkeit ab. Augen zu – und nicht einmal durch, sondern einfach nichts. Was früher Empörung auslöste, wird heute nur mit einem Schulterzucken abgetan.
Es ist ein neues Zeitalter angebrochen, die Renaissance der Gleichgültigkeit, so scheint es jedenfalls. Ich beobachte diese Entwicklung leider in vielen Bereichen. Diese neue Gleichgültigkeit, besonders in politischen Fragen, denen ich mich hier widmen will, öffnet extremen Kräften den Weg zur Macht – eine Entwicklung, die unsere demokratischen Grundwerte bedroht.
Die Beispiele sind alarmierend
Täglich überrollt uns eine Flut politischer Nachrichten. Wir scrollen im Eiltempo durch die Nachrichten, viele von uns stündlich oder öfters, lassen uns von der Informationsflut nur noch berieseln und gehen dann über zu unserer nächsten Tagesordnung – banal, aber egal! Die Beispiele sind alarmierend: US-Präsident Trump will Grönland annektieren – vielleicht gleich in einem Aufwasch mit Kanada und dem Panamakanal. Nächste Nachricht.
Auch ein Immobilienprojekt hat er aus dem Hut gezaubert: Der Gazastreifen soll zur "Riviera des Nahen Ostens" werden – mit prunkvollen Hotels, Golfplätzen, Luxus pur und perfekter Lage mit Blick auf das Meer. Aber wohin mit den zwei Millionen Menschen? Einfach Zwangsübersiedeln – nach Ägypten oder Jordanien oder so. Nächste Nachricht.
Zu Trump gesellt sich ein Tech-Milliardär, der an demokratischen Institutionen wie dem Kongress vorbei agieren kann, US-Ministerien über Nacht zerschlägt und Tausende Staatsbedienstete kündigt. Sein neu geschaffenes Ministerium verschafft ihm enorm viel Macht. Er ist auch derselbe Mann, der Fake News über seine Social-Media-Plattform befeuert. Wir erinnern uns an das manipulierte Foto, das Musk von Kamala Harris vor den US-Wahlen geteilt hat: Es zeigt sie in einem Kommunismus-Outfit, versehen mit dem Text: "Kamala schwört, vom ersten Tag an eine kommunistische Diktatorin zu sein!" Nächste Nachricht.
Apropos Kommunismus: AfD-Vorsitzende Alice Weidel erklärte im X-Talk mit Musk, Hitler sei ein Kommunist gewesen – ein kommunistischer, sozialistischer Typ. Nächste Nachricht.
Bundeskanzler Scholz blockiert die Ukraine-Hilfe – natürlich aus wahltaktischen Gründen. Das Thema, das Scholz aus sicherheitspolitischen Gründen stets in den Mittelpunkt gestellt hat, ist plötzlich völlig tabu. Ukraine? Nicht heute, bitte. Bitte auf Eis legen, bis nach der Bundestagswahl. Nächste Nachricht. Ein SPÖ-Vorsitzender schwadroniert über alte stalinistische Ideen. Nächste Nachricht.
Ein FPÖ-Vorsitzender gibt sich beim ersten Gipfeltreffen der europäischen Rechtsaußenfraktion Patrioten für Europa kämpferisch: "Unsere Bewegung ist nicht aufzuhalten" – ohne dass man sich dabei etwas denken soll. Nächste Nachricht.
Sind wir wirklich alle so abgestumpft?
Die Liste ließe sich noch endlos weiterführen, aber das ist nicht der Punkt. Ich glaube, liebe Leser:innen, Sie wissen, worauf ich hinauswill. Ereignisse, die früher massive öffentliche Debatten ausgelöst hätten, verschwinden heute fast unbemerkt im Nachrichtenstrom. Entrüstung, Faktenchecks und konstruktive Auseinandersetzungen finden – außer im medialen Elfenbeinturm – nur selten oder gar nicht statt. Stattdessen sorgen Reality-TV-Shows und Celebrity-Skandale wie "Bauer sucht Frau" oder "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" für mehr Empörung und Diskussionen.
Sind wir wirklich alle so abgestumpft? Können wir uns, wenn überhaupt, nur ein kurzes Kopfschütteln abverlangen, wenn Trump über seine Visionen im Gazastreifen schwadroniert? Ist es uns egal? Oder sehnen wir uns nach leichter Kost, weil die aktuelle politische Lage so schwer verdaulich ist – als Ablenkung, bis sich alles wieder in erträgliche Bahnen bewegt?
Aus eigener Erfahrung beobachte ich, besonders in den USA, wie politische Themen selbst in Familien und Freundeskreisen aus Angst vor Konflikten tunlichst vermieden werden. Viele Menschen ziehen sich zurück, weil sie den Eindruck haben, dass ein konstruktiver Dialog nicht mehr möglich sei. Der Austausch über die beste Lösung weicht oft persönlichen Angriffen.
In meiner über 45-jährigen Erfahrung in der Politik und politischen Beratung habe ich andere Zeiten erlebt. Wir führten harte, aber sachliche Debatten – ohne persönliche Angriffe, ohne Ablenkungsmanöver und ohne "dirty campaigning". Nach intensiven Diskussionen saßen Vertreter:innen verschiedener Parteien gemeinsam zusammen und pflegten einen respektvollen Umgang. Es ging um die Sache, um eine gemeinsame Lösung.
Die Zeiten haben sich geändert, das steht fest. Viele Menschen ziehen sich zurück, weil es sie nicht interessiert oder weil sie den ewigen Diskussionen und Debatten müde sind. Doch diese Entwicklung ist gefährlich, denn daraus kann Gleichgültigkeit entstehen oder ist schon entstanden. Dieses Schlupfloch, das für bestimmte Kräfte natürlich von großem Vorteil ist, wird gezielt ausgenutzt, um die demokratischen Grenzen zu überschreiten und zu verwischen.
Wir müssen aufwachen!
Die "Shock and Awe"-Taktik mancher Politiker:innen zielt darauf ab, durch ständige Provokationen und Skandale die Öffentlichkeit zu ermüden und diese abzustumpfen. Wenn eine Demokratie von wenigen Mächtigen bestimmt wird, die diese Gleichgültigkeit ausnutzen, verliert sie ihre Grundlage. Das ist gefährlich und kann nicht gut ausgehen.
Deshalb müssen wir aufwachen und uns von den wichtigen Dingen nicht abwenden. Mein Appell lautet: Lassen wir der Abstumpfung keinen Raum. Brechen wir aus dem Kreislauf von Desinteresse und Apathie aus. Engagieren wir uns wieder, führen wir leidenschaftliche, aber respektvolle Diskussionen. Tauschen wir uns aus – unabhängig von unseren Positionen und Meinungen. Natürlich ist es anstrengend, da gebe ich Ihnen recht. Aber was ich Ihnen versprechen kann: Es ist die Mühe wert!
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