"Unser Bildungssystem fokussiert viel zu sehr auf Defizite"

Christoph Wiederkehr (NEOS) erzählt im LEADERSNET-Interview über seine ersten 100 Tage als Vize-Bürgermeister und Bildungsstadtrat, welche Ansätze er beim Thema Bildung verfolgt, welche Rolle Distance Learning nach Corona spielen wird und was er als Bürgermeister machen würde.

LEADERSNET: Sie haben ungarisch-französische Wurzeln, sind in Salzburg geboren und leben in Wien. Ist das eine typische Wiener Geschichte?

Wiederkehr: Ja! Wien ist extrem vielfältig und divers. Viele Menschen sind zugewandert – entweder aus anderen Bundesländern, wie ich, oder aus anderen Ländern. Bei mir war schon in der Schulzeit klar, dass es mein Traum ist, nach Wien zu gehen. Und für mich war es auch die beste Entscheidung meines Lebens. Ich bin sehr froh, jetzt nicht nur in Wien leben zu dürfen, sondern als Vizebürgermeister Wien weiterentwickeln zu dürfen. Das ist eine große Verantwortung und Ehre. Das war schon immer etwas, was mich angetrieben hat: nämlich Gesellschaft zu gestalten, mitzuentwickeln und genau das darf ich jetzt machen und dabei vor allem auf die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen in Wien schauen.

LEADERSNET: Wie schaut eigentlich die Job-Description eines Wiener Vizebürgermeisters aus?

Wiederkehr: Ich bin jetzt relativ frisch Vizebürgermeister von Wien und in die Koalition eingetreten. Das war eine spannende neue Etappe in meinem politischen Leben. Ich war davor fünf Jahre in Wien in der Opposition, wo ich Missstände aufgezeigt habe und wo Sachen besser gehen könnten. Jetzt bin ich in der Rolle, dass ich die politische Verantwortung trage. Die angenehmen und unangenehmen Begleiterscheinungen als Vizebürgermeister sind vielfältig. Das Unangenehme ist, dass man ständig erreichbar sein muss und praktisch rund um die Uhr etwas zu tun hat. Aber das bringt auch mit sich, dass man gestalten darf und dafür bin ich in die Politik gegangen. Dafür haben sich die NEOS gegründet, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Genau das ist auch mein Antrieb jeden Tag, wenn ich aufstehe: Ich überlege mir, was ich tun kann, um Wien noch ein bisschen besser zu machen und ich denke in den ersten 100 Tage ist uns das schon sehr, sehr gut geglückt.

LEADERSNET: Ist Vizebürgermeister zu sein also ein cooler Job?

Wiederkehr: Es ist ein megacooler Job. Ich kann mir keinen besseren vorstellen. Für mich ist es eigentlich ein Traum, den ich leben darf. Ich habe aber auch großen Respekt davor, weil für mich ist ein politisches Amt vom Wähler geschenkt und in einer Demokratie immer auf Zeit gegeben. In dieser Zeit, die ich habe, ist es meine Aufgabe, das Bestmögliche daraus zu machen. Darum ist die Position ein Geschenk und ich bin jeden Tag wieder froh und glücklich, dass ich das auch machen darf.

LEADERSNET: Sie sind 31 Jahre alt. Wenn man jetzt in so jungen Jahren Vizebürgermeister ist, will man wahrscheinlich viel gestalten, aber in Wirklichkeit besteht die Funktion auch aus sehr viel repräsentativen Aufgaben: Man muss vielen Leuten die Hände schütteln, Verleihungen vornehmen usw. Ist das ein Aspekt des Jobs, der Ihnen gefällt oder würden Sie lieber mehr gestalten und weniger repräsentieren?

Wiederkehr: Mir geht das Händeschütteln gerade ehrlich gesagt ab. Aufgrund der Pandemie ist natürlich auch der Arbeitsalltag als Politiker etwas anders. Es gibt keine Veranstaltungen, man trifft viel weniger Leute und wenn, dann trifft man sie nur in kleinem Rahmen. Das fehlt schon sehr, weil Politik vom direkten Austausch lebt und ich bin als Bildungsstadtrat auch für die Kindergärten und Schulen in Wien zuständig. Ich wär gerne jede Woche in einem Kindergarten und in einer Schule. Das ist im Moment natürlich schwierig, weil es restriktive Corona-Bestimmungen gibt.

Aber die Balance ist immer zwischen dem Repräsentieren und gleichzeitig die Zukunft politisch zu gestalten zu können. Jetzt kommt aber auch noch das Aufgabengebiet dazu, die Pandemie bestmöglich zu handhaben und die Folgen abzufedern. Hier gilt es, eine Balance zu finden, wie man einerseits Zukunftsprojekte – wie gute Schulen, gute Kindergärten, eine Startrampe für das zukünftige Leben bereitzustellen und auch viele Zukunftsprojekte im Integrationsbereich und im Jugendbereich – installiert und andererseits die Herausforderungen der Pandemie und den damit verbundenen massiven Auswirkungen auf die Bildung, auf die Gesundheit und auf die Wirtschaft meistert. Ich bin aber Optimist und denke an die Zukunft.

LEADERSNET: Wie ist Ihr grundsätzlicher Zugang zum Thema Bildung?

Wiederkehr: Ich bin sehr stolz, dass Wien so eine vielfältige Bildungsstadt ist, mit großartigen Einrichtungen – von Fachhochschulen, über die Universitäten, bis hin zu den Kindergärten und Schulen – die tagtäglich ein vielfältiges Angebot anbieten. Die große Herausforderung aktuell ist natürlich, dass die Pandemie die Bildungseinrichtungen massiv belastet. In Fachhochschulen kann beispielsweise kein Präsenzunterricht stattfinden – die Studierenden sind seit einem Jahr nicht mehr am Standort selbst. Aber auch an den Schulen und Kindergärten gibt es sehr, sehr große Herausforderungen und auch Belastungen.

Mir ist es wichtig, das Bildungssystem weiterzuentwickeln und zu gestalten, hin in Richtung mehr Chancengerechtigkeit. Ich finde, jedes Kind das in Wien aufwächst, sollte gute Bildungschancen haben, unabhängig davon, in welches Elternhaus man geboren wird. Das brauchen wir auch für den Arbeitsmarkt und unseren Wirtschaftsstandort und vor allem auch für die persönliche Entfaltung von jedem Einzelnen. Darum ist es mein Ziel, Kindergärten und Schulen noch besser zu unterstützen in dieser Pandemie, um sie dann über zusätzliche Digitalisierung, über mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem und Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Einzelnen in die Zukunft zu führen .

LEADERSNET: Durch Corona hat auch das Thema Distance Learning eine neue Dimension bekommen. Welchen Anteil soll das Distance Learning in Zukunft haben?

Wiederkehr: Wir haben durch die Pandemie einen massiven Digitalisierungsschub in vielen Gesellschaftsbereichen erlebt. Ganz stark auch im Bildungsbereich, wo es auch dringend notwendig war. Aber Distance Learning kann nie die persönliche Begegnung ersetzen. Ich glaube, dieser persönliche Austausch fehlt uns allen und bei Kindern ist das ganz gravierend. Wenn denen die sozialen Kontakte abhanden kommen, sehen wir, dass die psychische Belastung entsprechend zunimmt. Darum ist es mir wichtig, auch einen Präsenzunterricht ermöglichen zu können – natürlich immer unter Berücksichtigung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, wie Maske tragen, Sicherheitsabstand plus Teststrategie. Das ist wichtig für die Kinder, aber ich glaube, auch für die Pädagoginnen und Pädagogen. Für die Zukunft müssen wir uns anschauen, wie wir Vorteile des digitalen Unterrichts mitnehmen, um diese ins Bildungssystem integrieren zu können.

LEADERSNET: Warum liegt Ihnen das Thema Bildung eigentlich so am Herzen?

Wiederkehr: Bildung ist der Grundbaustein für ein geglücktes Leben. Gute Bildung beginnt schon früh, die Grundsteine werden bereits im Kindergarten gelegt. Wir müssen es schaffen, im Kindergarten – auch über Sprachförderung – einen Bildungsaufstieg für alle Kinder zu ermöglichen, die sich entsprechend engagieren wollen. In der Pflichtschule müssen wir es dann schaffen, die Talente der Kinder zu sehen und zu entdecken. Unser Bildungssystem ist für mich noch immer viel zu sehr auf die Defizite fokussiert. Den Kindern wird sehr früh gesagt, was sie nicht können. Das gehört natürlich auch dazu, aber viel wichtiger ist es, Kindern schon früh zu zeigen, dass sie etwas können und Talente haben. Es geht in der Gesellschaft darum, dass jeder auch seine Talente entfalten und dann in die Gesellschaft einbringen kann.

Dafür braucht es mehr individuelle Betreuung – auch Individualisierung im Bildungssystem. Das ist aber nur über zusätzliche Ressourcen möglich. Diese schaffen wir jetzt in Wien, um die Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen und auch, um zum Beispiel die Frage von psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen im Bildungsbereich abzufedern. Zudem wollen wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, um neue Aspekte reinzubringen. Erst vor zwei Wochen habe ich mir ein Projekt angesehen, wo schon Kindergartenkinder spielerisch beginnen, Programmieren zu verstehen und vor allem auch ein Fokus auf junge Mädchen gelegt wird. Wir brauchen viele Mädchen und Frauen in technischen Berufen und um das zu erreichen, kann man schon im Bildungsbereich den Grundstein legen – unabhängig von der Herkunft oder vom Geschlecht. Es gilt die Talente zu entdecken und zu fördern und dann über eine Bildungslaufbahn, die positiv verläuft, auch ein geglücktes Leben zu ermöglichen.

LEADERSNET: 100 Tage Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat von Wien: Wie würden Sie Ihre bisherige Bilanz in drei oder vier Stichworten zusammenfassen?

Wiederkehr: Intensiv, konstruktiv gearbeitet, aufregend und wunderschön.

LEADERSNET: Ist die Digitalisierung Ihrer Meinung nach ein Fluch oder ein Segen?

Wiederkehr: Ich empfinde sie als großen Segen, die große Chancen bietet. Es gibt natürlich auch gewisse Risiken, aber man muss vor allem die Chancen sehen und diese gestalten. Ich denke wir können uns auf die Digitalisierung freuen, müssen ihr aber auch mit Respekt begegnen. Vor allem was den Prozess der Digitalisierung betrifft. Ich glaube, es braucht beides. Wir müssen uns freuen, aber auch Respekt haben vor dem Prozess, nämlich der Digitalisierung. Dieser ist aus Sicht des Menschen mit viel Aufwand verbunden und in diesem Prozess müssen wir vor allem die Kinder und Jugendlichen mitnehmen. Nur weil jeder Jugendliche oder jedes Kind ein Handy hat, heißt es nicht, dass man damit auch umgehen kann. Dazu zählt vor allem auch, dass man den Umgang mit digitalen und sozialen Medien lernt und diese auch kritisch hinterfragt. Das ist ein Entwicklungsprozess und hier stecken wir als Gesellschaft noch in den Kinderschuhen. Aber es ist auch schön, diesen Prozess auch mitgestalten zu dürfen – mit Zuversicht, aber mit dem notwendigen Respekt.

LEADERSNET: Sie sind jetzt Vizebürgermeister von Wien. Was würden Sie tun, wenn Sie Bürgermeister wären?

Wiederkehr: Ich würde mir einen guten Koalitionspartner aussuchen. Ich glaube, das hat Bürgermeister Michael Ludwig auch gemacht (lacht). Er hat mit dieser Fortschrittskoalition Mut bewiesen. Ich würde mich bei meinem Vorgänger für die bisherige Arbeit bedanken und dann würde ich – so wie ich es jetzt auch gemacht habe – mir einen Überblick darüber verschaffen, wo der Schuh drückt. Politik ist viel zuhören und je mehr Verantwortung man hat, desto besser sollte man zuhören können.

www.wien.gv.at

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