Als Division Leader Group IT Delivery bei der Raiffeisen Bank International (RBI) hat Elisabeth Geyer-Schall in Zusammenarbeit mit Christian Hassa von Techtalk die Transformation der Bank in den letzten 3,5 Jahren vorangetrieben. Im Interview erzählt sie von ihren bisherigen Erfahrungen, Fehlern und Learnings.
LEADERSNET: TechTalk begleitet die RBI seit 2011 erfolgreich im Agilen Change. Hätte die Transformation schneller durchgeführt werden können?
Geyer-Schall: In der Raiffeisen Bank International (RBI) haben wir sehr darauf gesetzt, dass wir eine nachhaltige Veränderung mit Substanz erreichen – und zwar auf Ebene der Teams für ihre tägliche Arbeit. Wir sprechen also nicht von einem Change auf Powerpoint, der von Consultants ansprechend präsentiert wird und dann häufig nicht die Umsetzungsebene erreicht. In Anbetracht der Qualität und Tiefe, die wir erreicht haben, bin ich davon überzeugt, dass wir die Veränderung nicht wahnsinnig viel schneller hätten durchführen können.
Die Geschwindigkeit des Changes ist für mich eine direkte Funktion der Qualität. Je schneller der Change ist, desto weniger tief gelingt die Veränderung. Ich bezweifle daher, dass eine nachhaltige Veränderung sehr viel schneller machbar ist, zumal ja sehr rasch Skalierungsthemen der Organisation zur Herausforderung werden. Diese müssen schon aus Risikogründen in kleinen Schritten adressiert werden, z.B. wie erfolgt die Steuerung und Transparenz der Teams, wie erfolgt die Verantwortungsabgrenzung der unterschiedlichen Rollen im agilen Team oder wie müssen sich HR- oder Finance-Prozesse verändern. Aber der Change hätte für alle Beteiligten weniger schmerzhaft ablaufen können.
LEADERSNET: Wie hätte die Transformation denn weniger schmerzhaft über die Bühne gehen können?
Geyer-Schall: Zum einen hätten wir mehr Zeit investieren sollen, eine gemeinsame Sichtweise im Vorstand und im Change Team herzustellen. Wir hätten uns klarer abstimmen sollen, was die große Vision ist, welche Elemente vom Change betroffen sind und was in welcher Zeit realistisch ist. Ich denke, die wenigsten Executives sind sich dessen bewusst, wie umfassend der Change ist, an wie vielen Ecken ein Paradigmenwechsel erforderlich ist (Führung, Menschen, IT, Arbeitsorganisation, Kultur, Steuerung, etc). Es muss sich das gesamte Organisationssystem und allen voran das Verhalten der Menschen adaptieren. Ein sehr komplexes Problem, das leider wenig vorhersehbar oder planbar ist und Zeit braucht. Dieser Change funktioniert nur schrittweise, mit "inspect and adapt" und kontinuierlicher Weiterentwicklung.
Zum anderen hätte ich auch das Thema Zeit und die realistische Erwartung, was bis wann machbar ist, besser berücksichtigen können. Mit heutigem Wissensstand kann ich teilen, dass nach 3,5 Jahren 1000 Mitarbeiter der RBI in nachhaltigen agilen Produkt-, Plattform- und Service-Teams arbeiten. Manche sind noch am Beginn, aber dennoch ist das agile Arbeiten und Mindset für sie alle völlig normal. Die Veränderung war eine grosse. Wir haben zudem auch davon profitiert, dass wir in der RBI seit 2011 mit "agilen Projekten" experimentiert haben.
LEADERSNET: Bleibt der einzelne Mensch beim Change auf der Strecke?
Geyer-Schall: Es ist wichtig zu verstehen, dass es bei diesem Change einzig und allein um die Menschen geht und wie wir mit ihnen umgehen. Alle anderen Themen sind auch komplex und brauchen viel Einsatz und neue Fähigkeiten (z.B.von einer traditionellen IT auf eine agile IT umzustellen). Trotzdem geht es immer um die Menschen, das Mindset und die Kultur. Damit die Organisation und die Menschen den Change gut schaffen, braucht es sehr viel Vertrauen, Zutrauen, Ermutigung und Sicherheit. Alle Ebenen müssen gemeinsam an der Veränderung arbeiten und regelmäßig offen reflektieren. Außerdem braucht es eine starke Wertschätzung gegenüber dem Bestehenden, damit die Leute sich gut öffnen können für die nötigen Veränderungsschritte. Das ist der wohl wichtigste Beitrag der Leader. Auch diesem Thema würde ich beim nächsten Mal mehr Raum und Bedeutung geben.
LEADERSNET: Müssen Sie sich auch selbst Fehler eingestehen?
Geyer-Schall: Bei einer Veränderung dieser Größe gibt es viele kleine und große Fehler. Es ist wichtig, Fehler transparent zu behandeln um möglichst schnell daraus lernen und darauf reagieren zu können. Das hilft auch bei der Etablierung einer positiven Fehlerkultur, welche eine wichtige Grundlage für eine erfolgreiche Veränderung ist. Ich hätte den oben genannten Themen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen und mich für noch mehr Alignment einsetzen sollen. Innerhalb des Change-Prozesses gab es ein sehr hohes Tempo. Hier hätte ich mehr Zeit für Reflexion einräumen sollen und stärker darauf achten sollen, das richtige Tempo zu finden. Für unsere IT war die Veränderung anfangs besonders schmerzhaft. Hier würde ich heute mit Unterstützung von externen Coaches klarer kommunizieren, welche Veränderungen in der IT notwendig sind, um agiler liefern zu können.
Rückblickend haben wir es geschafft – vielleicht wäre es mit weniger Schmerz gegangen. Mir wird nachgesagt, sehr fordernd und konsequent zu sein – die richtige Balance zwischen Klartext und Diplomatie zu finden, ist jedenfalls eine Herausforderung. Ich hätte auch das Thema laufende Kommunikation an die breite Organisation früher starten müssen. Diesen Punkt habe ich zu Beginn unterschätzt.
Ein weiterer Fehler war, dass wir den Change sehr fundiert bottom-up vorangetrieben haben und teilweise zu wenig in die Top-Down-Komponente investiert haben. Wir haben uns zu Beginn sehr stark darauf fokussiert, mit den Teams selbstständig zu arbeiten. Das war auch eine gute Vorgehensweise. Allerdings ist es gleichzeitig wichtig, dass sich diese Veränderungen in einem nachgelagerten Schritt im Board widerspiegeln. Hierauf hätten wir uns noch stärker fokussieren können.
Außerdem hätten wir gerade zu Beginn stärker mit Work-in-Progress-Limits (WIP-Limits) arbeiten sollen und dadurch die Anzahl der angefangenen Arbeiten begrenzen sollen. In unserem Fall hätten wir die Anzahl der Teams, mit denen wir arbeiten stärker einschränken und besser priorisieren können. Denn vor allem zu Beginn gab es ein große Nachfrage aus dem Unternehmen. Alle Teams waren motiviert direkt mit dem Change-Prozess zu beginnen. Eine Arbeit mit allen Teams gleichzeitig ist bei dieser Unternehmensgröße jedoch nicht möglich.
LEADERSNET: Mit welchen Widerständen hatten Sie bei der Umsetzung zu kämpfen?
Geyer-Schall: Natürlich gab es Widerstände, aber diese kamen immer mit einem relevanten Grund: Typischerweise war es ein Nichtverständnis, was von einem erwartet wird, ob man das leisten kann. Häufige Fragen gingen in Richtung Verantwortung. Teilweise war es ein unter Druck sein, weil die Kollegen den Eindruck erhalten, dass ihre bisherige Arbeit schlecht war. Teilweise war es auch eine Situation, dass das Standard-Scrum-Setup für ihren Arbeitskontext nicht passte. Daher haben wir auch nicht religiös und starr umgesetzt, sondern haben das passende agile Setup auf Teamebene etabliert mit einem Agile Coach. Wir hatten vorher überhaupt keine Erfahrung mit echter Teamarbeit. Wir kommen aus einer Kultur der Einzelkämpfer und des gegenseitigen Wettbewerbs. Außerdem gab es viel Angst vor der hohen Transparenz, weil in unserem Umfeld diese sehr häufig missbraucht wurde. Zuvor wurden die Mitarbeiter oft "bestraft" anstatt die Transparenz als den ehrlichen Weg zu sehen, die Situation zu verstehen und gemeinsam daran zu arbeiten.
LEADERSNET: Sehen Sie die Widerstände als "gemeine Blocker"?
Geyer-Schall: Nach fast vier Jahren sehe ich Widerstände gegen die Change-Arbeit überhaupt nicht mehr als "gemeine Blocker" sondern sie sind praktisch immer ein Spiegel für ein kulturelles oder strukturelles Problem, das noch zu lösen ist. Inzwischen bin ich sogar dankbar dafür, weil es eine ehrliche Reflexion ist. Außerdem müssen wir bedenken, dass neben dem Change unsere normale Arbeit und Lieferung weitergehen muss. Wir sind eine Bank in einem sehr regulierten Umfeld und kämpfen damit, wie viel Fehlertoleranz nach außen möglich ist. Dass wir den Change neben unserem normalen Tagesgeschäft tatsächlich so reibungslos geschafft haben, halte ich für außergewöhnlich. Nicht zuletzt ist das auf die hohe Identifikation aller Mitarbeitenden mit dem Unternehmen und deren Engagement zurückzuführen.
LEADERSNET: Gab es einen Punkt, an dem Sie aufgeben wollten? Und wenn ja, wie wurde dieser überwunden?
Geyer-Schall: Für mich persönlich gab es tatsächlich ein, zwei Punkte, an denen ich mir überlegt habe, ob mein Einsatz weiterhin zielführend ist. Es waren große strategische Weggabelungen.
Ein entscheider Punkt war, als wir die kritische Masse an Pilot-Teams erreicht haben. An diesem Punkt haben mehr Teams nach der neuen Arbeitsweise gearbeitet als nach der Alten und der Change konnte nicht mehr als ein abgekapseltes Pilotprojekt betrachtet werden, sondern er hatte Auswirkungen auf die Arbeitsweise des gesamten Unternehmens. Das führte zu großen, internen Diskussionen, ob dieser Change tatsächlich notwendig war. An dieser Stelle standen wir somit vor der kritischen Entscheidung: Führen wir diese Änderungen nun durch oder nicht. Hier war es wichtig, am Ball zu bleiben und die Auswirkungen auf allen Ebenen der Organisation zu behandeln und in den operationellen Prozessen der gesamten Organisation die notwendigen Änderungen durchzuführen.
LEADERSNET: Gibt es bei einem so traditionellen Unternehmen eigentlich eine offene Fehlerkultur?
Geyer-Schall: Bisher gab es nur wenig Raum für eine offene Fehlerkultur. Es ist eine große Herausforderung, die Zusammenarbeit zwischen den Teammitgliedern und den Vorgesetzten so zu etablieren, dass sich die Teammitglieder trauen, die wirklichen Problemen anzugehen – auch wenn es möglich ist, dass sie damit scheitern. Diese alte Denkweise, die generell noch sehr stark in der westlichen Unternehmenswelt verankert ist, ist auch bei vielen RBI-Mitarbeitern noch sehr präsent. Die Fehlerkultur innerhalb eines Teams lässt sich relativ schnell ändern. Ein teamübergreifende Änderung ist jedoch ein viel weitreichender, übergreifender Prozess. Änderungen in der Unternehmenskultur dauern deutlich länger als die eigentliche Transformation. Das ist mir im Nachhinein erst richtig bewusst geworden und hat auch zu einem Punkt geführt, an dem ich aufgeben wollte. Hier ist es besonders wichtig, dass man diesem Prozess ausreichend Zeit gibt und dran bleibt.
LEADERSNET: Welche Vorteile sind heute, nach fast vier Jahren, schon sichtbar und messbar?
Geyer-Schall: Ich halte mich an unsere drei Hauptelemente, die wir bei den Teams messen:
Product Value. Hier haben ein Level erreicht, dass sich unsere Arbeit voll und ganz auf den Mehrwert für das Unternehmen fokussiert. Das halte ich für einen großen Erfolg und es war eine weitreichende Veränderung. Wir sind mit einigen digitalen Initiativen speziell im Corporate Umfeld schon deutlich spürbar bei unseren Kunden. Ich freue mich, dass die Teams laufend einen Mehrwert für unsere Kunden schaffen. Da müssen viele Aspekte funktionieren. Es ist großartig, dass wir so weit sind.
IT Architecture/Engineering. Die Produkte, die unsere automatisierte Deployment Pipeline nutzen und Test Automatisierung einsetzen, sind in den letzten Jahren stetig und steil angestiegen. Cloud, API, Microservices und neue Technologien gehören inzwischen zu unserem ganz normalen Alltag. Wir sind noch nicht komplett durch, aber die Richtung stimmt.
People /Process/Culture. Wir holen regelmäßig Feedback aus den agilen Teams ein, was zum einen der laufenden Weiterentwicklung dient, und zum anderen zeigt, dass wir für unsere Mitarbeitenden die Rahmenbedingungen für ein besseres Umfeld geschaffen haben und weiterhin schaffen.
Spürbar ist auch weniger Bürokratie. Ich höre von vielen Mitarbeitenden, dass es bisher die einzige Veränderung ist, die eine nachhaltige positive Auswirkung für sie hat und dass sie sich wohl fühlen. Bei diversen IT-Konferenzen und Meetups kommt das Erstaunen, dass eine traditionelle Bank, wie wir, so weit ist und so arbeitet.
Auf Organisationsebene haben wir inzwischen auch die Steuerungsprozesse adaptiert und haben damit eine völlig neue Qualität der Transparenz und Messung von Arbeit, die einen direkt Mehrwert liefert, erreicht. Der Change ist deutlich bis zur Mitarbeiterebene spürbar und es entsteht eine große Bewegung, sich auf den Mehrwert für den Kunden und Continuous Innovation zu fokussieren.
LEADERSNET: Welches Fazit können sIe nach fast vier Jahren Change-Arbeit ziehen?
Geyer-Schall: Abschließend kann ich sagen, dass es bisher eine aufregende Reise war, voller Höhen und Tiefen. Persönlich konnte ich noch nie so viel lernen und wachsen, wie in diesem Change-Prozess. Basierend auf dem Feedback von vielen Mitarbeitenden bin ich davon überzeugt, dass wir Großartiges geschafft haben und noch viel Veränderung vor uns liegt.
Ich möchte mich ganz besonders bei meiner engagierten Agile-Coaches-Gruppe bedanken, die diesen Change mit den Mitarbeitenden getragen haben und Großartiges geleistet haben. Vor allem verhält es sich bei ihrer Arbeit mit den Teams fast genauso wie bei Nanny McPhee: "Wenn ihr mich braucht, mich aber nicht wollt, dann muss ich bleiben. Wenn ihr mich wollt, mich aber nicht mehr braucht, dann muss ich gehen." Kein einfacher Job!
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