"Standards? Wie langweilig! Kann er nicht über etwas anderes schreiben?" – das denken jetzt vielleicht einige meiner geneigten Leser:innen. Haben Sie bitte etwas Geduld und lesen Sie weiter – es wird interessanter, als Sie denken.
Jede:r möchte besonders sein. Wir wollen uns von anderen unterscheiden, denn Gleichheit wird oft als langweilig empfunden und scheint Kreativität und Fortschritt zu verhindern. Ich verstehe das vollkommen, denn auch mir geht es oft so. Doch in vielen Bereichen – insbesondere in der Technik, aber nicht nur dort – stellt die Unterschiedlichkeit einen großen Hemmschuh für Wirtschaft, Fortschritt und damit auch für unser soziales Zusammenleben dar.
Folgen fehlender Standarisierung
Die Folgen fehlender Standardisierung werden in vielen alltäglichen Situationen offensichtlich: Warum ist beispielsweise der Zugverkehr zwischen den einzelnen Ländern nach Jahrzehnten immer noch chaotisch? Unterschiedliche Spurweiten, abweichende technische und elektronische Voraussetzungen sowie variierende Stromstandards (mal 110 Volt, mal 220 Volt) behindern den reibungslosen Betrieb.
Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag: Warum haben wir zu Hause einen "Kabelsalat"? Weil es Jahre dauerte, bis endlich ein einheitlicher Stecker für Mobilgeräte eingeführt wurde. Stellen Sie sich vor, es gäbe keine Standardisierung für Schraubengrößen – es wäre eine Katastrophe. Es gibt tausende solcher Beispiele. In der Wissenschaft wäre ohne Standards keine Vergleichbarkeit von Testergebnissen möglich. Neue Erfindungen könnten nicht evaluiert werden, und Fortschritt wäre nur mit großer Verzögerung messbar und verwertbar.
Einheitliche Standards
All diese Beispiele zeigen: Ohne Standards und Normierungen entstehen erhebliche Zeit- und Mehraufwände. Die Materialverschwendung durch unterschiedliche Kabel und Steckverbindungen verursacht immense wirtschaftliche Kosten – zum Teil in Milliardenhöhe. Einheitliche Normen könnten zu besseren Arbeitsbedingungen führen und die Effizienz steigern.
Gerade in der Beschaffung auf europäischer Ebene, denken wir etwa an eine gemeinsame Militärausrüstung, wären einheitliche Standards essenziell. "Goldene" Extrawünsche einzelner Länder führen hingegen nur zu unnötigen Verzögerungen und Kosten.
Die Problematik ist nicht neu. Normierungsinstitute wie das Austrian Standards Institute oder das Deutsche Institut für Normung (DIN) arbeiten daran, und auf internationaler Ebene gibt es die International Organization for Standardization (ISO). Ich bin selbst Mitglied in einem solchen Komitee und weiß, wie viel Arbeit hier geleistet wird – meist unbemerkt von der Öffentlichkeit, obwohl sie von enormer Bedeutung ist. Umso mehr benötigt auch dieser Bereich eine Modernisierung: mehr Personal, mehr finanzielle Mittel und effizientere Prozesse. Denn oft dauert es Jahre, bis eine Norm verabschiedet wird.
Politisches Umdenken
Wie an so vielen Stellen müsste auch hier die Politik viel stärker in die Pflicht genommen werden – ein politisches Umdenken wäre dringend erforderlich. Das Festhalten an lokalen Standards dient oftmals dem Schutz eigener Industrien, wird aber häufig auch aus falsch verstandenem Patriotismus oder reiner Eitelkeit heraus verteidigt. Diese Haltung sollten wir überwinden, wenn die EU effizienter und wettbewerbsfähiger werden will. Anders als die USA, China oder Indien sind wir kein einheitlicher Staat, sondern eine Gemeinschaft vieler Nationen – umso wichtiger sind einheitliche Standards.
Doch hier stehen uns vielfach Bürokratie und Gold-Plating im Weg. Die EU wurde gegründet – nein, nicht nur, um die USA zu besch***en, sondern, um Handelsbarrieren abzubauen und den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zu ermöglichen. Doch was passiert in der Praxis? Die europäische Bürokratie wächst unaufhaltsam, und viele EU-weite Regelungen, die eigentlich zur Angleichung dienen sollen, werden von den Mitgliedstaaten durch zusätzliche, oft verschärfende Vorschriften wieder ad absurdum geführt, dann sprechen wir von Gold-Plating. Was helfen sollte, verschlimmert die Situation in vielen Fällen. Hier wäre eine klare Regelung nötig: Gold-Plating sollte per se verboten werden.
Standards als Chance
Normierungen und Standardisierung haben sich auch im Unternehmensalltag nicht umsonst etabliert, festgelegte Prozesse und Abläufe etwa können immens Zeit einsparen – man muss das Rad nicht ständig neu erfinden. Standardisierung bedeutet auch keineswegs, dass die Individualität des Menschen eingeschränkt wird. Vielmehr könnten wir eingesparte Zeit und Ressourcen in unsere Kreativität und Individualität investieren. Und ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass wir vor diesem Hintergrund Standards nicht als Einschränkung verstehen sollten, sondern als Chance. Ergreifen wir sie also!
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