Während in der Helmut Newton Foundation bereits 2010 und 2016 große Alice-Springs-Ausstellungen stattfanden, waren viele der Fotografien in dieser neuen Retrospektive noch nie öffentlich zu sehen. Umfangreiche Recherchen in den Archiven der Stiftung, insbesondere in den kürzlich aus der Wohnung der Newtons in Monaco nach Berlin transferierten Beständen, haben neue Einblicke in das Werk von Alice Springs ermöglicht. Einige dieser spektakulären Ergebnisse werden nun zum ersten Mal als Vintage- oder Ausstellungsdrucke zu sehen sein.
June Newton begann 1970 unter dem Namen Alice Springs als professionelle Fotografin zu arbeiten und konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf Porträts. Alles begann mit einer Grippe: Als Helmut Newton 1970 erkrankte, kam ihm seine Frau June zu Hilfe. Er erklärte ihr den Umgang mit der Kamera und dem Belichtungsmesser, und sie nahm an seiner Stelle das Werbebild für die französische Zigarettenmarke Gitanes in Paris auf. Dieses Porträt eines rauchenden Models begründete die neue Karriere des ehemaligen australischen Bühnenschauspielers, der in Frankreich aufgrund der Sprachbarriere kaum Chancen hatte. Nach diesem ersten Erfolg vermittelte José Alvarez, der damals eine Werbeagentur in Paris leitete, ihr Aufträge für Werbespots für pharmazeutische Produkte. Später, als Leiter des Verlags Editions du Regard, veröffentlichte Alvarez 1983 den ersten Porträtband von Alice Springs.
Alice Springs hat seit Mitte der siebziger Jahre viele Porträts aufgenommen. Ihre Bilder sind voller Einfühlungsvermögen und vermitteln ihre charakteristische Mischung aus Neugier und Verständnis für die Menschen, denen sie im Laufe der Jahre begegnet ist. In ihren Porträts von Fotografenkollegen - darunter Richard Avedon, Brassaï, Ralph Gibson, Sheila Metzner und Robert Mapplethorpe - und Berühmtheiten wie Nicole Kidman, Isabelle Adjani, Vivienne Westwood, Liam Neeson und Claude Chabrol gelang es Alice Springs, nicht nur das Aussehen ihrer Porträtierten, sondern auch ihre Ausstrahlung einzufangen.

Obwohl die meisten der von ihr porträtierten Personen zum kulturellen Jetset gehörten, kümmerte sich Alice Springs nicht um den sozialen Status ihrer Motive. Ihr Objektiv richtet sich oft auf das menschliche Gesicht, das sie in einem engen Ausschnitt mit Kopf und Schultern oder als Dreiviertelporträt zeigt. Die Porträtierten blicken neugierig, offen und direkt in ihre 35-mm-Kamera. Studioaufnahmen sind in ihrem Werk selten; die meisten ihrer Porträts entstanden im öffentlichen Raum oder in oder vor den Häusern ihrer Protagonisten, meist nur mit natürlichem Licht. In diesen Bildern begegnet uns das gesamte Spektrum der Reaktionen: von stolzen Posen über natürliches Selbstbewusstsein bis hin zu schüchternen Blicken. Im Auftrag von Zeitschriften oder aus eigener Initiative entstanden, werden die Porträts zu visuellen Kommentaren, zu Interpretationen der Porträtierten. Gleichzeitig lässt Alice Springs die Individualität jedes ihrer Porträtierten durchscheinen. Auf diese Weise fügte sie dem bekannten Gesicht eine neue und unerwartete Dimension hinzu und machte es so klischeefrei wie möglich. Ihr Verständnis von Schauspielerei mag dazu beigetragen haben, dass sie die menschliche Fassade konfrontieren und gleichzeitig hinter sie blicken konnte.

Ebenso faszinierend sind die Porträts ihres Mannes, die sie oft während seiner eigenen Fotoshootings aufnahm. Zusammen mit Helmut Newtons Bildern von seiner Frau und ausgewählten Selbstporträts runden sie diese umfassende Werkschau ab. In gewisser Weise sind diese intimen Bilder eine Erweiterung der früheren gemeinsamen Ausstellung Us and Them. Ein kuratierter Auszug aus dem legendären Gemeinschaftsprojekt des Paares und weitere gemeinsame Porträts sind im hinteren Ausstellungsraum zu sehen. So schließt sich in der Ausstellung auf verschiedenen Ebenen der Kreis: Leben und Werk von Helmut und June Newton waren auf unterschiedlichste Weise miteinander verbunden und treffen sich nun in Berlin wieder. Die Ausstellung läuft vom 3. Juni bis 19. November 2023.
www.helmut-newton-foundation.org
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