"Die Digitalisierung ist nachhaltig, die Dynamik wird jedoch abflachen"

Gerhard Raffling, Experte für Customer- und Employee-Experience, im Interview über Unternehmen, die von der Digitalisierung kalt erwischt wurden, wie es in Österreich um das Thema Kundenservice steht und welche Veränderungen die Künstliche Intelligenz bringen wird.

Gerhard Raffling ist Vice President und Country Manager bei Medallia, einem der weltweit führenden Anbieter von Customer Experience (CX)- und Employee Experience (EX)-Management-Lösungen. Raffling ist als Experte für Experience Management zudem damit beauftragt, die Implementierung des erweiterten CX- und EX-Managements in verschiedenen Branchen zu begleiten.

LEADERSNET hat bei Gerhard Raffling nachgefragt, wie er den Digitalisierungsschub durch die Corona-Pandemie bewertet, wie der Onlinehandel den stationären Handel hinsichtlich Einkaufserlebnis schlagen kann, was er vom Vorschlag der EU für einen Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz hält und welche Branchen beim Thema Customer- und Employee-Experience die Nase vorne haben.

LEADERSNET: Die Corona-Pandemie hat dafür gesorgt, dass der Onlinehandel noch einmal einen massiven Push bekommen hat. Wie nachhaltig ist diese Digitalisierung Ihrer Meinung nach?

Raffling: Online-Einkäufe sind seit Jahren ein immer stärker werdender Faktor. Die Pandemie hat vielen Händlern aufgezeigt, welche Digitalisierungsschritte längst überfällig waren. Viele Unternehmen hat es dabei kalt erwischt. Eilig aufgebaute Lösungen scheiterten beim Kunden am Bekanntheitsgrad und am Vertrauen. Die Digitalisierung ist nachhaltig, es ist jedoch davon auszugehen, dass die Dynamik der letzten zwölf Monate abflachen wird. Aktuelle Studien zeigen, dass der stationäre Handel trotz allem noch immer dominiert – die Frage ist wie lange. Händler sollten weiter an ihrer Digitalisierungsstrategie festhalten – mit ununterbrochener Analyse ihrer Kundenwünsche, Auf- und Ausbau der neu aufgebauten Kanäle und kontinuierlicher Weiterentwicklung.

LEADERSNET: Einer der großen Vorteile des "analogen" Handels ist es, den Kund:innen ein Einkaufserlebnis zu bieten, das im besten Fall alle fünf Sinne des Menschen positiv anspricht. Digital ist es hingegen so, dass eigentlich nur zwei Sinne, nämlich Sehen und Hören, zum Zug kommen. Worauf müssen Unternehmen achten, um den Kunden hier ein nachhaltig positiv besetztes Einkaufserlebnis zu bieten?

Raffling: Ein positives Einkaufserlebnis entsteht aus dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren. Dies zu erzeugen kann sowohl online als auf offline gelingen. Häufig hängt es sehr stark vom Produkt ab, wo man lieber kauft: bei vielen Produkten fallen Faktoren stärker ins Gewicht, die den Onlinekauf begünstigen – Zeitersparnis, Bequemlichkeit, stärkere und schnellere Vergleichbarkeit des Angebots etc. Für manche Stationen des klassischen Verkaufsprozesses haben sich auch längst analoge Onlinevarianten etabliert. So erhöhen positive Kundenfeedbacks und Ratings deutlich das Vertrauen in den jeweiligen Händler.

Für den digitalen Verkauf ist die entscheidende Frage, wie das Einkaufserlebnis gestaltet wird. Ein guter und friktionsloser Webauftritt – vom Erstaufruf der Seite bis zur Bezahlung – kann ein ebenso großartiges Einkaufserlebnis erzeugen wie ein gelungener Einkauf im Shop. Hier gilt es, Technologien zu nutzen, die ein entsprechendes Kundenverständnis und -engagement gestatten. Customer-Experience-Technologien unterstützen im digitalen Bereich, Kunden immer besser kennenzulernen und deren Wünsche und Absichten im Voraus zu "erahnen". Eine Fähigkeit, die für die Optimierung des eigenen Webauftritts genutzt werden kann und im Idealfall dazu führt, dass die Online-Erfahrung als bequemer und besser empfunden wird als die oft stressige Produktsuche von einem Geschäft zum nächsten.

LEADERSNET: Welche Auswirkungen wird die zunehmende Verlagerung des Handels in den Online-Bereich auf die Größe und Gestaltung von stationären Verkaufsflächen haben?

Raffling: Der Onlinehandel ist in den vergangenen Jahren deutlich stärker gewachsen als der stationäre Handel – so viel steht fest. Auch ältere Altersgruppen kaufen zunehmend online ein und genießen die Vorteile, wenn erst mal das Vertrauen in Anbieter, Bezahlung und Lieferung her-gestellt ist. Der Store wird künftig noch relevanter für das Erlebnis selbst sein. Verkaufsflächen werden immer häufiger als reine Bühne für den Brand gesehen. Man möchte analoge Erfahrungen schaffen, die mich als Kunden dann auch online wieder nach Marke und Produkt suchen lassen. ROPO – research offline, purchase online – bekommt also einen neuen Drive. Dies wiederum wird weitere Investitionen in Online-Auftritte nötig machen, um am Ende für den Kunden möglichst friktionsarm ein Gesamterlebnis zu gestalten. Entscheidend für den Erfolg werden dabei Kenntnisse über den Kunden sein und dabei die analytische Zusammenführung beider Welten. Wer befindet sich in meinem Geschäft und davor und danach auf meiner Seite und wonach sucht die Person? Wie findet sie sich zurecht und was ist der Grund für einen Abbruch oder eine kurze Verweildauer? Jene Händler, die über starke Analysefähigkeiten verfügen, um solche Fragen zu beantworten, können sämtliche Maßnahmen on- und offline danach ausrichten.

LEADERSNET: Der Umbruch bei Geschäftsprozessen von Banken, Handelsunternehmen und Tourismusinstitutionen scheint derzeit weitgehend technologiegetrieben zu sein. Besteht hier nicht die Gefahr, dass die Customer- (CX) und Employee-Experience (EX) auf der Strecke bleibt?

Raffling: Kunden- und mitarbeiterzentriert handeln ist das Gebot der Stunde. In einem hart umkämpften Umfeld, mit vielen vergleichbaren Angeboten, ist eine herausragende Kundenorientierung meist das ausschlaggebende Unterscheidungskriterium. Und dazu kann jeder einzelne Mitarbeiter beitragen. Eine technologiegetriebene Transformation bedingt eine langfristige EX-Strategie und das Enablement und Empowerment jedes einzelnen Mitarbeiters. Im Gegenteil also: Sie ist de facto der Beginn der CX- und EX-Optimierung, denn sie verlangt Anpassungen in beiden Bereichen.

LEADERSNET: Die EU hat vor einigen Monaten den weltweit ersten Vorschlag für einen Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz (KI) vorgelegt. Demzufolge soll Europa das "globale Zentrum für vertrauenswürdige KI" werden. Was halten Sie vom Vorstoß der EU in diesem Bereich?

Raffling: Die KI ist heute aus vielen Branchen und Bereichen nicht mehr wegzudenken. Sie bringt enorm viele Vorteile. Gleichzeitig wird sie kritisch gesehen, wenn es um die Sammlung und Verwendung persönlicher Daten geht. Hier gilt es Klarheit zu schaffen und unsere Rechte zu schützen und so Ängste aus dem Weg zu räumen. Insofern begrüße ich den neuen Rechtsrahmen.

LEADERSNET: Welche Auswirkungen wird der vermehrte Einsatz von KI in den kommenden fünf bis zehn Jahren auf die Customer- und Employee-Experience haben?

Raffling: KI ist bereits heute nicht mehr aus dem Bereich wegzudenken. Mit dem zunehmenden Einsatz von KI gilt es Mitarbeiter rasch aus- und weiterzubilden, bestehende Prozesse anzupassen und intern laufend über Änderungen im CX-Prozess aufzuklären. Denn es will gelernt sein, mit KI-Technologien zu arbeiten und vor allem das auszugleichen, was KI-Systeme nicht können – spontanes und vor allem kreatives Reagieren auf völlig neue unerwartete Situationen. Zudem gilt es beim Einsatz von KI-Technologien nachhaltig vorzugehen. Bereits heute werden täglich Milliarden Signale aus verschiedenen Quellen – von einfachen Umfragen bis hin zu IoT und Social Media – für CX und EX verarbeitet. Ohne KI ist die Auswertung dieser Signale und Ableitung von Maßnahmen de facto nicht möglich. In fünf bis zehn Jahren potenzieren sich diese Signale und mit diesen auch die benötigte Rechenleistung, um weiterhin in Echtzeit agieren zu können. Handeln in Echtzeit und weg von langwierigen manuellen Auswertungen ist somit der Begriff, der durch KI in den Mittelpunkt rückt.

LEADERSNET: Welche Branche ist, was das Thema Customer-(CX) und Employee-Experience (EX) betrifft, ihrer Meinung nach an vorderster Front?

Raffling: Kundenzentriertes Denken und Handeln ist für alle Branchen bedeutend. Den größten Nutzen von optimierten Customer-Experience-Strategien haben aus meiner Sicht Branchen mit sehr vergleichbaren Produkten. Auch Branchen, die mehr über ihre Kunden wissen müssen, dieses Wissen aber nicht primär aus dem persönlichen Kontakt schöpfen können, sind mit CX und EX generell schon auf einem guten Stand. Viele Bereiche im Handel, Telekommunikationsanbieter, Banken oder Versicherungen sind hier zu nennen. Die aktuellen Vorreiter finden sich folgerichtig auch in diesen Branchen.

Eine optimierte CX-Strategie wird durch eine optimierte EX-Strategie bedingt. Die meisten CX-Vorreiter haben im Rahmen ihrer Optimierungen zugleich auch das Enablement und Empowerment von Mitarbeitern in Angriff genommen. Aktuelle Daten zeigen, dass Corona viele weitere Branchen für EX sensibilisiert hat. Das ist gut so, denn es wird immer schwieriger, die richtigen Talente zu finden und langfristig an das eigene Unternehmen zu binden. Zu wissen, wie Mitarbeiter Maßnahmen oder Veränderungen im Unternehmen wahrnehmen und sofort darauf reagieren zu können, wird künftig branchenübergreifend immer wichtiger sein.

LEADERSNET: Welchen Platz hat die Kundenfreundlichkeit im Kopf österreichischer Unternehmer:innen und können wir hier gegen unsere Nachbarn bestehen?

Raffling: Aktuelle Studien deuten in Richtung einer Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Performance eines Landes und der Priorisierung von CX bzw. den Kundenzufriedenheitswerten hin. Vergleiche gestalten sich allerdings etwas schwierig, da der Branchenmix der Länder natürlich unterschiedlich ist. Zudem haben auch kulturelle Unterschiede einen Einfluss auf die Definition und Priorisierung von CX in den verschiedenen europäischen Ländern. So zählen etwa die Deutschen die Zuverlässigkeit der Produkte, die Pünktlichkeit der Lieferung und den Zustand der gelieferten Ware zu den besonders wichtigen CX-Faktoren. Für Italiener hingegen ist die Verfügbarkeit des Website-Supports als CX-Bestandteil von besonderer Bedeutung. Die letzten zwölf Monate sind ebenfalls zu berücksichtigen, denn sie haben viele Branchen für CX sensibilisiert. Länderübergreifende Studien zum Vergleich sind aber noch ausstehend.

Aus den Zahlen vor der Pandemie geht aber hervor: Das Thema wird in Österreich von Branche zu Branche anders priorisiert. Österreich punktet in Sachen Kundenservice besonders mit Drogeriemärkten, Lebensmittelmärkten und Optikern. Hingegen haben beispielsweise Internetanbieter, Postfilialen und Bau- und Heimwerkermärkte gegenüber unseren deutschen Nachbarn noch Aufholbedarf (bezieht sich auf die ServiceBarometer AG Studie 2020 – Anm. d. Red.). (as)

www.medallia.com

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