Michael Miskarik: Herr Prof. Marin, Sie haben nicht nur Alterns- und Pensionsfragen, sondern auch Gesundheitspolitik und Pandemie-Management untersucht. Wie ordnen Sie die Corona-Krise ein?
Bernd Marin: Wir hatten 1983 bis 1997 das AIDS-Management in sechs europäischen Ländern untersucht. Mein Co-Autor Patrick Kenis hat jüngst den Ausbruch eines fiktiven New Asian Corona Virus(NAC) simuliert – gerade zu hellseherisch, kurz vor der realen Covid-19-Pandemie. Ganz sicher ist derzeit nur,dass es noch nie in der Menschheitsgeschichte soweit reichende globale Maßnahmen-mit 2,6 Milliarden Menschen (ohne die inzwischen wieder aktiven 1,4 Miliarden Chinesen!) in Quarantäne und weltweitem Wirtschaftskollaps durch Infektionsprävention gab.
Wo werden wir als Gesellschaft in einem Jahr stehen?
Schwer zusagen. Sicher scheint nur, dass die Wirtschaftskrise und ihre Nachbeben massiver sein werden als die dann wohl „beendete“ Gesundheitskrise. Dagegen könnten gesellschaftliche und kulturelle Umwälzungen durchaus positives, sogar unumkehrbares Lernpotenzial haben. Vielleicht nehmen wir dann auch endlich die über hunderttausend – weitgehend vermeidbaren – Toten der alljährlichen Grippewellen zur Kenntnis. Und ernst. Vielleicht verzichten künftig nicht mehr 92 Prozent der Mitbürger auf wirksame und verfügbare Impfungen. Impfpflichten gegenüber tragbare Krankheiten–von Masern bis Papillomavirus und folgebedingte Krebsarten – sowie Fragen nach zulässigen Freiheitsbeschränkungen durch staatliches Risikomanagement werden wieder aktueller.
Müssen wir uns also in Zukunft zwischen Gesundheit und Freiheit entscheiden?
Fraglos das Dilemma. Ich wage eine weitere Prognose, nämlich, dass Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten in liberalen Demokratien – wenn überhaupt – konsensuell nur im Zeichen akuter Gesundheitskrisen wie Seuchen oder Nuklear-bzw. Umweltkatastrophen stattfinden können. Dagegen würde Notstand wegen Krieg und Gewalt wie Gelbwesten -Aufstände, Massenmigration usw. selbst nur weitere Gewalt hervorrufen. Nur was ich schon 2013 als „sanitizing“ und „sanitarianism“ analysierte, eine Art hygiene-obsessives „Keimfreimachen-Wollen“, umfassendes Sterilisieren des seuchenbedrohten „Volkskörpers“ würde eine stille, mehrheitsfähige Ausschaltung der Demokratie auf demokratischem Wege legitimieren.

Die Covid-19-Pandemie hält sprichwörtlich die ganze Welt in Atem. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es wegen eines Virus so weitreichende globale Maßnahmen.
Besteht somit Gefahr für unsere Demokratie?
Wir sollten uns nicht wundern, was im Gebot der „öffentlichen Gesundheit“, und zwar nur der„Gesundheit“ als unserer säkularen Ersatzreligion, alles möglich und legitim werden könnte. Das reicht von „strikter Quarantäne für alle Senioren “oder raster gefahndeten „Risikogruppen“ bis zu „totaler Ausgangssperre für alle“, wie sie manche Virologen befürworten. Umgekehrt könnte gerade eine erfolgreiche Ab-wehr plausibler autoritärer Versuchungen in Notstandszeiten dauerhaft gegen illiberale Ansteckung immunisieren, damit etwa aus Big Data nicht Big Brother à la Orwell oder Wuhan 2020 wird. Hören wir auf die Warnungen von Yuval Noah Harari oder Juli Zeh“s „Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit“.
Könnten künftig Experten weitreichende politische Weichenstellungen treffen?
Wahrscheinlich ist ein Bedeutungszuwachs aller Fachleute. Neben Juristen,Sozial- und Wirtschaftswissenschaftern, Klimaforschern und Nuklearphysikern kämen dann auch Epidemiologen, Virologen, Parasitologen, Infektiologen, usw. zu Wort. Die Politik sollte künftig fakten- und evidenzbasierter entscheiden – man würde sich etwa in der Pensionspolitik soviel Rationalität und wissenschaftliche Expertise wünschen wie im Seuchenmanagement. Gefährlich wäre hingegen, wenn sich Fachleute für Gesundheit anmaßen oder gar von den Regierenden autorisiert würden, das Ausmaß „gesundheitlichnötiger“ Verkehrs- und Freiheitsbeschränkungen vorzubuchstabieren. Eine solche Herrschaft der Medizinexpertobürokratie wäre fatal, aber leider wohl eben so mehrheitsfähig wie manche populistischen Verführungen.
Wie könnte sich unser wirtschaftliches und soziales Leben verändern?
Das lässt sich in gebotener Kürze seriös nicht einmal skizzieren. Es wird fraglos mehr Neues als Gewohntes geben, mehr Innovation, Disruption, kreative Zerstörung und Neugestaltung. Schon jetzt sehen wir das Paradox rapide beschleunigten Wandels inmitten aller Entschleunigung: Entwicklungsschübe,-sprünge, Umbrüche in Wochen, ja Tagen, die zuvor in Jahren und Jahrzehnten kaum vorankamen – von Telearbeit und Videokonferenzen über Vertrauensgleitzeit bis hin zu gesamtwirtschaftlichem Krisenmanagement. Wir dürfen eine Welle sozialer Innovationen ungeahnten Ausmaßes erwarten, und vieles davon wird unsere Lebensqualität steigern und eine neue Balance zwischen materieller Wertschöpfung und Wohlstand, Wohlfahrt und Wohlbefinden schaffen.
Andererseits ist vieles an unserem neuen Leben nur schwer zu verstehen. Wie gehen wir damit um?
Vermutlich helfen uns hier Künstler und Komiker mehr als Wissenschaftler und Philosophen. Unbegreifliches sowie quälende Ungewissheit, Widersprüche und Paradoxien können am besten – oder oft nur – mit Humor bewältigt werden. Wer hätte vor einem Monat geahnt, dass Gesundheit und Menschen leben, ja die ganze Menschheit, durch mehr oder minder süßes Nichtstun „gerettet“ werden könnten. Dass Zigtausende von uns fast formlos eine Art bedingungsloses, arbeitsfreies Grundeinkommen erhalten, wenn wir zu Hause bleiben und nicht arbeiten – quasi eine Nicht-Ansteckungsprämie. Und dass wir inzwischen gefühlt Millionen Helden des Corona-Alltags haben, sehr bald wohl fast mehr Heroen als Einwohner. Jeder Wache- oder Bankbeamte hinter Glasscheibe am Schalter ist heute an der „Front“ im „Krieg gegen das Virus“ und riskiert Gesundheit und Leben für uns alle zur Aufrechterhaltung „überlebenswichtiger Dienste“. Und niemandem scheint aufzufallen, dass auch außer-häusliche Liebeshändel und Sex defacto verboten sind, auch ohne „Oster-Erlass“.
Gut, dass auch den Gelehrten der Kopf brummt, aber der Humor nicht vergeht.
Ja, wir hatten in diesem einzigartigen Monat nicht nur sehr viel zum Wundern, sondern auch zum Schmunzeln und Lachen: So viele skurrile und groteske Alltagsgeschichten können Corona-freie Zeiten ohne kollektive Lähmung, aber auch ohne Wiederbelebung vieler Sinne und Talente und ohne „Überlebens“-Kampf um Konserven und Klopapier einfach nicht bieten. Kabarettist möchte man sein.
Spaß beiseite: Wieso gibt es immer noch Menschen, die sich gemeingefährlich verhalten, die Mitmenschen und Gesundheitspolitik gefährden?
Es scheint in jeder Gesellschaft einen – freilich sehr variablen, stark vom Mehrheitsverhalten abhängigen–Bodensatz an Dolmen und Rücksichtlosen zu geben. Das wird in anderen Zusammenhängen leider ja häufig sogar erwartet und ausgenutzt. Aber Vorsicht: Die „Unverbesserlichen“, die Dodeln, Bösen, Schurken – das sind immer die Anderen. Ständig hören wir von angeblich unverrückbar fixen„fünf Prozent“ an„Corona-Party-“ und klodeckelleckender „Covid-Challenge“-Deppen und zahllosen „Spuckattacken“. Aber glaubt wirklich irgendjemand ernsthaft, dass 445.000(!) ÖsterreicherInnen so „unverbesserlich“ sind, dass sie strengst bestraft werden müssten?In Italien können Verstöße gegen das Epidemiegesetz jetzt mit bis zu fünf Jahren statt bisher drei Monaten Freiheitsentzug geahndet werden. Bei uns können dumme, ja gemeine Vergehen wie das Vorschwindeln eines falschen Covid-19-Sta-tus wie schwere Verbrechen mit jahrelangem Gefängnis belangt werden.
Aber muss sich die Gesellschaft nicht wirksam gegen Gemeingefährdungen schützen?
Selbstverständlich muss sie das, es geht nur um Augenmaß, Verhältnismäßigkeit, Hausverstand ,soziale Balance und die Kosten sanitärer Moralkreuzzüge. Zwei Beispiele, wie vertrackt eine faire Beurteilung sein kann: In Wien beschuldigte ein erkrankter Lungenfacharzt im Fernsehen einen jugendlichen Patienten ohne Beweis einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Covid-19-Ansteckung, um nachträglich den Irrtum eingestehen zu müssen. Wer darf wen, wann, weswegen klagen und strafen lassen? Steuern wir auf US-amerikanische Klageepidemien aller gegen alle mit fünffachen Streitkosten hin? In Salzburg schlägt Red Bull Racing Motorsport-Chef Helmut Marko, 77, ein „Corona-Camp“ zur gezielten Ansteckung seiner jungen Rennfahrer vor. Die Pause sei „ideal time for the infection“, um danach für die Formel-1-Saison bestens gerüstet zu sein. Ist diese neo-darwinistische Schnapsidee eines ehemaligen Autorennfahrers, mächtigen (und studierten) Unternehmers und Managers strafwürdig? Und weniger strafwürdig als die Einladung zur„Coronaparty“ strohdummer junger Lümmel?In Italien wurden allein in den ersten beiden Wochen über 100.000 Strafverfahren eingeleitet. Meine These als jemand, der viele Jahre in Florenz gelebt hat und Jahrzehnte Zweitresident in Venedig ist: Je unfähiger ein System im Krisenmanagement, desto hysterischer die mediale und polizeiliche Jagd auf Sündenböcke, um vom eigenen Versagen wie dem Mangel an rechtzeitiger Prävention, Masken, Schutzkleidung sowie effizienter Spitalsorganisation abzulenken. Je erfolgreicher eine Regierung, desto rationaler und unrepressiver. Das scheint ein ehernes Gesetz – weltweit.
Das Ausmaß der Freiheitseinschränkungen wird wohl immer umstritten sein. Was können wir daraus lernen?
In liberalen Demokratien braucht Herrschaft Legitimität, also brauchen Freiheitseinschränkungen Zustimmmung durch Überzeugung statt Zwang und Gewalt. Selbstverständlich können nicht alle in Mailand ansässigen Süditaliener heim zu ihren Familien, aber wohlgeordnete Mobilität müsste möglich sein. In Frankreich ist es mittlerweile strafbar, mehr als einen Kilometer entfernt vom Wohnsitz zu radeln oder länger als eine vorher einzutragende – Stunde spazieren zugehen. In Tel Aviv reichen mehr als 100 Meter vom Wohnort und ein 10-Minuten-Spaziergang für saftige Geldstrafen. Da sind sogar Häftlinge besser dran. Wien kam ohne autoritäre Ausgangssperren aus. Großeltern bis Enkel wurden bloß mit Polizeiwagen und Megaphonen von Parkbänken verscheucht. In Salzburg versuchten Angehörige ihre Familienmitglieder im Seniorenheim, über selbst gebastelte Körbe, die aus dem Fenster gehalten wurden, mit Schokolade und Zigaretten zu versorgen. Ein strafwürdiger „Infektionsanschlag“ Bei allernötigen Gesetzestreue und Ordnungsliebe: Soll die europäische Justiz jahrelang mit Millionen Corona-Fällen lahm gelegt werden?
Also sollte sich die Gesellschaft gerade in einer Krise auf das Wichtigste besinnen und nicht auf das Naheliegendste oder Dringlichste?
Genauso,und es klappt: Seit Jahrzehnten wurde nicht so achtsam, soviel und regelmäßig Positives, Wertschätzendes, Ermutigendes berichtet. Unvermeidlich wurde gleichzeitig nicht nur das Beste sondern auch das Mieseste unserer Spezies offenbar: Vom Diebstahl lebenswichtiger Schutzkleidung, Plünderung von Desinfektionsmitteln und „laufen-den Diebstählen“ in Spitälern über Panikkäufe, verantwortungslose Geschäftsgier und Wucher bis zu Waffen-und vor allem Munitionskäufen. Warum wird eigentlich keinem der offenkundig gefährlichen Psychopathen, die sich jetzt mit einer Glock und dem Dreifachen der “üblichen“ Munition eindecken, der Waffenschein entzogen?
Können wir nach Ostern allmählich wieder aufatmen?
Ja und nein, das hängt von unserer Gesundheit und auch mentalen Grundstimmung und unserem Glauben an weltliche Wiederauferstehung ab. Am Ende einer zu-gleich endlos langen und atemberaubend kurzen Umbruchs- und Quarantänezeit sagen nämlich unsere Krisenerwartungen zwischen Ängsten und Hoffnungen vor allem auch etwas über uns selbst aus: Über unsere Widerstandskraft, Klugheit,Mitmenschlichkeit ,unseren Realitätssinn und unsere Fähigkeit zu Aufbruch und Erneuerung sowie zum Aufbau einer neuen Welt – dort wo die alten Verhältnisse gleichsam unter den ständig gewaschenen, desinfizierten Händen zerfallen.
Wie kann eine Welt ohne oder nach Corona aussehen?
Eine Welt ohne Covid-19 wäre theoretisch möglich, wenn sich das Wunder spurlosen Verschwindens wie bei SARS-CoV nach Mitte 2003 wiederholte. Doch darauf dürfen wir nicht zählen. Eine Welt nach Corona wird es leider nicht geben, sondern nur eine mit Corona. Sie wird recht bald schon eine harmlose, aber millionenfach „durchseuchte“, zugleich mit Medikamenten und Impfstoffen besser geschützte sein. Corona ist nicht Pest und Cholera, Ebola, Polio oder Pocken. Sowie wir seit über einem Jahr hundert in einer Welt mit hunderten Millionen Grippetoten gelebt haben – nach den 50 Millionen Toten der „Spanischen Grippe“ 1918, starben 1968 über eine Million an der „Hong-kong-Grippe“, ebenso viele 1997 an der„Asiatischen Grippe“,150.000 an der „Schweinegrippe“ 2009 und seither jedes Jahr an „normaler“ Influenza. Wir vergessen allzu schnell, wiesehr wir eine Welt ansteckender und auch nicht übertragbarer Krankheiten und Leiden gewöhnt waren – und dennoch überwiegend angstfrei und durchaus ruhig und zufrieden lebten.
Wird also alles wieder gut?
Mit ersten medizinischen Fortschritten, vor allem aber der vollen Wiederherstellung wirtschaftlicher Normalität und aller demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten, wird auch die lähmende Angst und bedrückend atemabschnürende Enge dieser Episode vorbei sein. Sie zeigte wie ein schlimmer Fieberalbtraum, dass selbst höchste wissenschaftlich spezialisierte Expertise nicht Vernunftverbürgt und per se gegen Panik, Tunnelblick und kollektiven Wahn immunisiert. Ich halte es mit Hugo Portisch „HörnS“ auf mit dem Fürchten, seinS“ froh, dass Sie leben“, weil „zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“, wie uns Felix Mitterer zu recht erinnert.
www.hdi-leben.at
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