Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Europa vor dem Abgrund – Trumps 28-Punkte-Plan

| Redaktion 
| 30.11.2025

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Geneigte Leser:innen, waren Sie auch überrascht vom 28-Punkte-Friedensplan für die Ukraine, den die USA vor zehn Tagen auf den Tisch gelegt hat? Seit seinem Bekanntwerden wird nun über problematische Punkte verhandelt. Je genauer man nämlich hinsieht, desto lauter werden die Stimmen, die davor warnen, dass hier kein Frieden, sondern ein gefährliches Täuschungsmanöver vorliegt.

"Pseudofrieden"

Anfangs dachte auch ich noch positiv darüber nach. Doch sehr schnell wurde klar: Der amerikanische Präsident will keinen gerechten Frieden, sondern einen Pseudofrieden erzwingen, in der irrigen Annahme, er könne sich damit als Friedensnobelpreisträger ins geschichtliche Licht setzen. Man muss es deutlich sagen: Dieser 28-Punkte-Plan ist kein Friedensangebot, sondern kommt einem politischen Diktat gleich. Lassen wir beiseite, dass die 28 Punkte im Wesentlichen den Maximalforderungen Russlands entsprechen und kaum aus der Feder eines neutralen Vermittlers stammen können. Viel schwerer wiegt der historische Vergleich. Der Plan erinnert fatal an das Münchner Abkommen von 1938, als die europäischen Demokratien glaubten, durch Zugeständnisse an Hitler einen Krieg verhindern zu können – und stattdessen den Weg in die Katastrophe ebneten.

Wie damals die Tschechoslowakei das Sudetenland abtreten musste, soll nun die Ukraine große Teile ihres Territoriums dem Aggressor überlassen – sogar Gebiete, die Russland nicht einmal erobert hat. Zudem soll sie ihre NATO-Perspektive aufgeben und sich mit leeren russischen Versprechen zufriedengeben. Gleichzeitig würde ihre eigene Wehrfähigkeit eingeschränkt, während der Aggressor im Land bleiben und seine Sprache und Staatskirche verpflichtend durchsetzen dürfte.

Gewalt, die einmal erfolgreich war, wird wieder eingesetzt

1938 versprach Hitler, nach dem Sudetenland keine weiteren Ansprüche zu stellen. Auch damals gaben europäische Staaten Sicherheitsgarantien ab. Was folgte, kennen wir aus den Geschichtsbüchern. Heute sollen wir erneut glauben, dass Russland mit Zugeständnissen zufriedenzustellen wäre. Wer das denkt, verkennt die Logik der Machtpolitik: Gewalt, die einmal erfolgreich war, wird wieder eingesetzt. Für andere Krisenherde – von Korea bis Taiwan – wäre das Signal verheerend, nämlich, dass sich Aggression lohnt.

Für die Ukraine bedeutet dieser Plan nichts anderes als Kapitulation, und Kapitulation bedeutet Aufgabe der Zukunft. Ein Land, das gezwungen wird, Teile seiner Bevölkerung und seines Staatsgebietes preiszugeben, verliert nicht nur Land, sondern auch Würde, Stabilität und Vertrauen. Es wäre der Beginn eines politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollapses.

Glaubwürdigkeit und Vertrauen 

Für Europa wäre die Gefahr noch größer. Die EU würde ihre Glaubwürdigkeit verlieren, die NATO ihre Abschreckungskraft, das Vertrauen in die USA ginge gegen den Nullpunkt. Russland hätte freie Hand, seinen Einfluss weiter auszubauen. Europa müsste eine sofortige Frontlinie an den polnischen Außengrenzen aufbauen, weil unkontrollierbare Flüchtlingsströme nach Westen drohten.

Warum also hat die EU keine eigene Initiative ergriffen? Warum hat man sich – insbesondere Deutschland – nicht weiter vorbereitet? Weil man zu sehr auf die USA vertraut hat, weil man intern zerstritten war, weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Und vor allem, weil man es verabsäumt hat, der Bevölkerung klar zu vermitteln, dass es um unsere Freiheit geht. Die Menschen haben verdrängt, wie ernst die Lage ist. Dreieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn diskutieren wir noch immer über die Notwendigkeit einer Wehr- oder Dienstpflicht, doch diese Ausreden tragen nicht mehr!

Europa muss entschlossen Verantwortung übernehmen

Europa muss endlich Verantwortung übernehmen – nicht morgen, sondern heute – und zwar entschlossen. Es braucht Waffen für die Ukraine, auch weitreichende, außerdem wirtschaftliche Integration und politische Garantien. Möglicherweise beginnt damit eine Phase gesteuerter Kriegswirtschaft, doch wir brauchen eine umfassende Vorbereitung für die Landesverteidigung und eine europäische Sicherheitsarchitektur, die nicht von Washington abhängig ist. Nur eine geeinte EU kann Russland Grenzen setzen.

Liebe Leser:innen, das sind keine angenehmen Nachrichten. Aber das, was notwendig ist, liegt seit Jahren offen am Tisch. Wer glaubt, der Krieg gehe uns nichts an, irrt gewaltig. Kiew liegt näher an Wien als Vorarlberg. Wer von diesem Plan Ruhe erwartet, hat im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst. Der 28-Punkte-Plan ist ein gefährliches Trugbild, der zwar Frieden verspricht, de facto aber Instabilität bringt. Wer ihn akzeptiert, wiederholt die Fehler von 1938, denn ein Frieden ohne Gerechtigkeit ist keiner, sondern nur der Auftakt zur nächsten Katastrophe.

Unser stärkster Antrieb muss nun sein, diejenigen Kräfte zu stärken, die echten Frieden, wirkliche Sicherheit und den Schutz von Demokratie und Freiheit gewährleisten. Das gelingt nur, wenn ein Aggressor spürt, dass sein Gegenüber stark genug ist, ihn in Schach zu halten. Diese alte Doktrin der Abschreckung hat Europa einst seine längste Friedensperiode beschert. Genau dorthin müssen wir zurück – leider, aber dringend, entschlossen und mit den Mitteln, die nötig sind.

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