Geneigte Leser:innen, ich entschuldige mich schon vorab für den vielleicht etwas düsteren Ton dieses Gastkommentars. Aber es gibt Momente, in denen Beschönigung fehl am Platz ist und ich auch meiner Frustration freien Lauf geben muss. Wir reden seit Jahren darüber, was zu tun wäre – Expert:innen, Institutionen, Wirtschaftstreibende. Die Fakten liegen auf dem Tisch, doch sie werden ignoriert – und das zermürbt nicht nur mich.
Schicksalsjahr 2026
Es ist zwar noch etwas früh für einen Ausblick auf 2026, aber eines lässt sich jetzt schon sagen: Dieses Jahr wird ein Schicksalsjahr, nicht nur persönlich (dazu demnächst mehr), sondern vor allem politisch und wirtschaftlich. Europa steht vor einem massiven Rechtsruck. Frankreich steuert auf ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Fiasko zu, weil es nicht gelingt, der Bevölkerung die Notwendigkeit radikaler Reformen begreiflich zu machen. Deswegen setzen die Arbeitnehmer:innen ihre Streiks für eine 36-Stunden-Woche und ein früheres Pensionsalter munter fort. In die Karten spielt das vorrangig der vermeintlichen Heilsbringerin Le Pen, doch würde auch ihre Partei – noch weniger als die Linken – die notwendigen Reformen durchführen, weil Einschnitte für alle ihre Popularität im Handumdrehen wieder schmälern würden.
In Deutschland wird die AfD vermutlich erstmals einen Ministerpräsidenten in einem Bundesland stellen. Die CDU/CSU bemüht sich zwar redlich und hat auch (die meisten) richtigen Punkte erkannt. Leider ist sie dabei so von der SPD abhängig, die sich ebenso mit gerade einmal 17 Prozent Zustimmung begnügen muss und die Welt mit postkommunistischen Ideen und Sozialverteilungsfantasien retten will. Das Schlimme bei allen extremen Parteien, die enormen Zuwachs bekommen, ist, dass sie eben keinen Ansatz liefern, der die wirtschaftlichen Probleme lösen würde.
Tiefgreifende Umbrüche sind notwendig
Was alle eint, ist der Mangel an Mut, das Offensichtliche auszusprechen, nämlich, dass es ohne tiefgreifende Umbrüche nicht mehr weitergeht. Die Reformen müssten den Schulden- und Bürokratieabbau in den Mittelpunkt stellen und ja, sie würden schmerzen, weil sie Wohlstandseinschnitte bedeuten. Aber sie sind notwendig, um das System zu stabilisieren. Stattdessen wird weiter laviert, vertröstet, verteilt und leider auch verdrängt.
Schauen wir auf Österreich: Hier ist der Schritt vom einzelnen Branchenversagen hin zu einem strukturellen Systemversagen bereits passiert. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Inflation sinkt nur langsam. Die Schulden liegen bei rund 85 Prozent des BIP, die Staatsquote bei 53 Prozent. Die Industrie wandert ab, weil Produktivität und Standortattraktivität abnehmen, parallel dazu wachsen Lohnnebenkosten, Bürokratie und Energiekosten.
Auch andere Bereiche zeigen Symptome des gleichen Problems, das aber – nehmen wir die Medienbranche her – auch zum Teil hausgemacht ist. Mit dem Ruf nach staatlicher Unterstützung untergraben sie ihre einzige Rechtfertigung, und das ist nicht weniger als die eigene Unabhängigkeit. Der Staat wiederum scheut sich aus Angst vor wirtschaftlichen oder politischen Konsequenzen, die Macht der internationalen Digitalkonzerne ernsthaft zu begrenzen. Und das, obwohl sie von den traditionellen Medien profitieren, gleichzeitig aber kaum Wertschöpfung im Land lassen – weil die Antwort des Autokraten Donald Trump befürchtet wird. Über allem liegt ein lähmender Bürokratismus, der alles bremst und niemanden mehr motiviert.
Zurück zur wirtschaftlichen Lage in Österreich, das sich im EU-Defizitverfahren befindet, doch das Staatsbudget lässt kaum Spielraum, um gegenzusteuern. Dennoch hält man an der Illusion fest, dass man sich aus der Misere "hinausverwalten" könne. Man redet sich die Lage schön, verweist auf hohe Steuereinnahmen durch gerade jene Unternehmen, die ansonsten als Kapitalisten bezeichnet werden. Strukturelle Schwächen werden mit kurzfristigen Pflastern überdeckt, anstatt – ich wiederhole–, die Ehrlichkeit und den Mut aufzubringen, das Offensichtliche und Notwendige auszusprechen.
Versprechen, Verdrängung und Vertröstung
Es braucht Regierungen, die nicht weiter versprechen, alles werde gut, sondern die den Bürger:innen ungeschminkt sagen: Es wird nur dann besser, wenn wir bereit sind, uns zu verändern. Radikale Reformen sind notwendig – im Pensionssystem, in der Verwaltung, in der Steuerpolitik, in der Bildung, und sie sind alternativlos, wenn wir ein Licht am Ende des Tunnels sehen wollen.
Wenn das nicht geschieht, wird sich nichts ändern und die FPÖ wird zwangsläufig ihren Weg in die Regierung machen. Aber auch in deren Programm sehe ich – parallel zu Frankreich und Deutschland – derzeit keine Ansätze für die Reformen, die Österreich dringend bräuchte. Der Kreislauf aus Versprechen, Verdrängung und Vertröstung würde sich bis zum endgültigen Systemversagen fortsetzen.
Warum passiert also nichts? Ich diskutiere das oft mit Freund:innen und Kolleg:innen, von denen manche sagen, dass es einfach noch nicht schlimm genug ist. Vielleicht ist es auch eine Art Verdrängungsmechanismus, aber wenn wir erst reagieren, wenn es auch der oder die Allerletzte spürt, ist es unumkehrbar zu spät und jeglicher Handlungsspielraum verloren. Da reicht doch allein der Blick auf Griechenland, das circa 15 Jahre – mit massiver Hilfe – gebraucht hat, wieder auf einen wirtschaftlichen Wachstumspfad zu kommen. Und ehrlicherweise hätten wir heute nicht mehr die Kraft und die Mittel, so etwas zu stemmen.
Mut, Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein
Was sollen wir also tun? Das Florian-Prinzip wird uns nicht helfen, wir müssen handeln, bevor das System kippt. Nicht mit populistischen Maßnahmen, sondern mit Mut, Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein. Lassen Sie uns ein Systemversagen vermeiden, indem wir gemeinsam die Dinge anpacken und die Realität anerkennen, statt sie zu verdrängen. Wer sie akzeptiert, kann die Zukunft gestalten. Die gute Nachricht ist: Systemversagen ist kein Naturgesetz. Es ist das Ergebnis von Zögerlichkeit, und die lässt sich überwinden. Mit Mut, Klarheit und Willensstärke wird aus Stillstand wieder Tatkraft.
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