Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Beistehen

| Redaktion 
| 22.06.2025

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Geneigte Leser:innen, in den vergangenen Tagen und Wochen war vielerorts vom "Beistehen" die Rede. In politischen Statements, in Talkshows, auf Social Media, in privaten Gesprächen. Wir müssen einander beistehen, heißt es. Es wird versichert, dass wir zusammenhalten, dass wir solidarisch sind. Nach dem schrecklichen Amoklauf in Graz wurden diese Bekundungen auch öffentlichkeitswirksam von allen Seiten nochmals verstärkt. Doch auch in Verträgen, sei es auf staatlicher oder internationaler Ebene, ist immer öfter von Beistandspflichten die Rede.

Was bedeutet "Beistehen"

Doch was bedeutet es eigentlich, jemandem beizustehen? Und halten wir das, was wir so oft versprechen? Generell verstehen wir beistehen als das Unterstützen einer Person in schwierigen Situationen – sei es emotional, moralisch oder ganz praktisch. Eine simple Definition. Und doch ist Beistehen alles andere als simpel. Es ist keine Floskel, kein Lippenbekenntnis, sondern im besten Fall gelebte Verantwortung. In Österreich gibt es viele Menschen, Initiativen und Organisationen, die genau das täglich beweisen – still, nachhaltig, konkret. Menschen, die hinschauen, handeln, helfen. Sie verstehen Beistand nicht als Worthülse, sondern als Haltung.

Und doch: Der Eindruck drängt sich auf, dass "Beistand" – zumindest in der öffentlichen und politischen Kommunikation – immer häufiger proklamiert, aber immer seltener eingelöst wird. Die großen Versprechen stehen im Raum, die Taten bleiben aus.

Besonders spürbar ist das in Zeiten zunehmender weltpolitischer Spannungen. Während Kriege eskalieren, Bündnisse auf die Probe gestellt werden und humanitäre Krisen zunehmen, scheint der Reflex nicht etwa verstärkter Zusammenhalt zu sein – sondern Rückzug. Vorauseilender Rückzug. Es wirkt beinahe, als bereiteten sich manche Akteur:innen schon vorsorglich darauf vor, Verpflichtungen nicht einhalten zu müssen. Beistand? Wenn es ernst wird, lieber nicht. Ein alter Spruch scheint sich zu bewahrheiten: Beistand funktioniert nur, solange er nicht eingefordert wird.

Auch im Privaten kennen wir dieses Phänomen. Die Eheformel "In guten wie in schlechten Zeiten" klingt schön – aber was bleibt davon übrig, wenn die Realität unbequem wird? Scheidungen, Erbstreitigkeiten, familiäre Zerwürfnisse: In vielen Fällen versagt der Beistand genau dann, wenn er am dringendsten gebraucht wird.

Ein Blick auf das große Ganze zeigt: Auch zwischen Staaten ist Beistand alles andere als eindeutig. Nehmen wir Artikel 5 des NATO-Vertrags. Dort heißt es: Ein bewaffneter Angriff auf ein Mitglied wird als Angriff auf alle gewertet. Was viele nicht wissen: Jeder Staat entscheidet selbst, wie er reagiert. Militärische Unterstützung ist nicht zwingend vorgesehen. Ganz anders Artikel 42.7 des EU-Vertrags: Hier ist die Verpflichtung zur Hilfeleistung unmissverständlich formuliert, wenn ein Mitgliedsstaat angegriffen wird: "mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln".

Beistand beginnt mit einem Versprechen

Trotzdem ist es in der Praxis oft genau umgekehrt: Während die NATO in der öffentlichen Wahrnehmung als handlungsfähiges Verteidigungsbündnis gilt, bleiben die EU-Verpflichtungen oft vage. Die politische Auslegung setzt dem juristisch Festgelegten enge Grenzen. Man könnte also sagen: Beistand – ob zwischen Staaten, innerhalb von Gemeinschaften oder im Privaten – beginnt mit einem Versprechen. Aber was ist dieses Versprechen wert? Und worauf gründet unser Vertrauen in solche Zusagen?

Ein warnendes Beispiel ist das Budapester Memorandum von 1994. Die Ukraine gab im Rahmen dieses Abkommens ihre Atomwaffen aus Sowjetzeiten ab. Im Gegenzug versprachen die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine territoriale Unversehrtheit und Schutz. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 blieb dieses Versprechen jedoch folgenlos. Das Memorandum wurde zu einer politischen Zielsetzung bzw. Absichtserklärung degradiert. Realpolitik statt Rückgrat.

Wann funktioniert Beistand wirklich? 

Der Fall zeigt: Versprochener Beistand kann im Ernstfall zur Worthülse werden. Und das bringt uns zur eigentlichen Frage: Wann funktioniert Beistand wirklich?

Die Antwort ist unbequem: Beistand funktioniert nur dort, wo er nicht nur erklärt, sondern auch gelebt wird. Wo er nicht an Bedingungen geknüpft ist. Wo er nicht bloß der eigenen Inszenierung dient, sondern dem Gegenüber. Er funktioniert dort, wo Menschen unabhängig von Konventionen, Mehrheiten oder Stimmungen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – im Kleinen wie im Großen.

Beistand beginnt nicht auf dem Papier, sondern im Kopf und in den Herzen. Wenn wir also davon sprechen, einander beizustehen, sollten wir uns fragen: Wie ernst meinen wir das wirklich? Und was sind wir bereit, dafür zu tun? Denn der Wert von Beistand zeigt sich nicht in Erklärungen, sondern in Entscheidungen.

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