Kürzlich wurde der nicht nur von mir sehr geschätzte deutsche Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart in den Ruhestand verabschiedet – zu meinem großen Bedauern. Er hat zu seinem Abschied jedoch noch einiges thematisiert, was mich mitunter zu diesem Gastkommentar veranlasst hat.
"Kommende Schüsse haben ein Ziel"
Unter anderem beschrieb er seinen Eindruck, dass Russland mit dem grausamen, rücksichtslosen und mit höchster Brutalität geführten Krieg jede Hoffnung auf ewigen Frieden in Europa vernichtet habe. Aufgrund der nicht mehr zu erwartenden Unterstützung der USA im transatlantischen Bündnis stünden zudem Europa und Deutschland vor epochalen und immensen Herausforderungen. Viele, so von Sandrart, hätten diese Umwälzungen immer noch nicht verstanden: "Ich fürchte, dass die Warnschüsse verhallt sind. Kommende Schüsse haben ein Ziel". Und so verhindere dieser Mangel an Verständnis es, ins Tun zu kommen.
Stimmt das denn, meine geneigten Leser:innen? Wenn ich mich in Österreich umsehe und -höre, gelange ich tatsächlich zu dem Eindruck, dass weder die politisch Verantwortlichen, noch die Wirtschaft und auch nicht die Medien verstanden haben, was eigentlich wirklich passiert. Alles geht seinen normalen Gang. In der Regierung scheint dieses Thema beinahe zur Gänze ausgeblendet. Hier und dort klammert man sich an die fadenscheinige Diskussion und das Festhalten an der Neutralität, die alles beschützen soll. Auch die Bevölkerung scheint wenig beunruhigt und tut alles ab – Hauptsache man kann sich das Bier und die Stelze im Schweizerhaus noch leisten.
Fünf Phasen der Trauer
In Deutschland ist die Politik unter Herrn Merz indes aufgewacht und hat sich hinsichtlich der Verteidigung das Motto "Koste es, was es wolle!" auf die Fahnen geheftet. Aber es bräuchte noch viele zusätzliche politische Entscheidungen, wie etwa die Wiedereinführung der Wehrdienstpflicht. Dennoch ist vor allem auch die Bevölkerung in Deutschland mit seiner Einstellung, beispielsweise in Hinblick auf Zivilschutz, schon um einiges weiter. Österreich hingegen erscheint noch keineswegs akzeptiert zu haben, dass sich die Umstände gravierend verändert haben und es dringend notwendig wäre, sich selbst und das Land zu ändern. Analog zu den fünf Phasen der Trauer steckt man hierzulande noch in der Phase 1 fest, nämlich der Verleugnung der Situation.
Scheinbar hat man also die Schüsse tatsächlich nicht gehört. Doch was kommt danach? Auf die Verleugnung folgt in der Regel die Phase des Zorns: "Wer hat mir das angetan, dass ich nun etwas ändern muss?" Diese löst jedoch bei manch extremen Vertretern wie einem Herrn Orban zusätzlich eine paradoxe Reaktion aus, nämlich die der Täter-Opfer-Umkehr. Üblicherweise sollten als Nächstes die Phase 3 – die Phase des Verhandelns – und die Depression als Phase 4 folgen, bis es schlussendlich in der fünften Phase zur Akzeptanz kommt.
Der Vergleich mit der Verarbeitung von Trauer mag vielleicht etwas hinken, doch ich glaube, dass wir uns in einer ganz ähnlichen Situation befinden. Denn Trauer ist vorhanden: darüber, dass lieb gewonnene Lebenssituationen und -abläufe verloren gehen, ebenso wie die bisher gewohnte Sicherheit und das Vertrauen.
Nicht verleugnen, sondern akzeptieren
Und dies zeigt sehr deutlich, dass – vor allem in Österreich – der (Warn-)Schuss bisher wirklich ungehört verhallt ist. Ich denke jedoch, dass uns für die genannten fünf Stufen die Zeit fehlt. In Wirklichkeit müssten wir uns schon längst in der Phase der Akzeptanz befinden, denn nach der Akzeptanz kommt der wichtigste Punkt: das Tun. Das Tun, welches diesmal von uns allen ein Umdenken, ein gesellschaftliches Miteinander, einen wirtschaftlichen Kraftakt erfordern und auch kräftige, schmerzhafte Einschnitte bedeuten wird.
Das Wichtigste in der jetzigen Phase wäre deshalb, nicht zu verleugnen, sondern zu akzeptieren, begleitet von richtiger, wichtiger und andauernder Kommunikation, was dies für uns alle (auch in Österreich!) bedeutet. Wollen wir weiter in Freiheit, Gleichheit und Frieden leben? Dann müssen wir akzeptieren, dass dies nicht auf gewohnten Pfaden geschehen kann. Daraus kann aber nur folgen, dass es dazu anderer Mittel bedarf, nämlich selber stark zu sein – militärisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Wir werden auf andere abschreckend wirken müssen. Die Individualität muss zugunsten des Staates zurückgeschraubt werden.
Thema Neutralität ernsthaft diskutieren
In Österreich muss endlich das Thema Neutralität ernsthaft diskutiert werden. Was bedeutet sie überhaupt, wie definieren wir sie, wollen wir überhaupt noch neutral bleiben? Wer nicht darüber nachdenken will, ob man nicht sogar bereit sein müsste, sein Leben für das eigene Land zu geben, der/die möge sich vergegenwärtigen, was in der Ukraine seit drei Jahren für die Menschen dort an der Tagesordnung steht.
Sollte Österreich die Schüsse weiterhin nicht hören (wollen), also in der Verleumdungsphase verharren, anstatt zur Akzeptanz zu kommen – wer weiß, ob wir es dann überhaupt erleben können, ins Tun zu kommen. Für mich ist das mehr als nur ein unheilvolles Szenario, es ist eines, das ich mir nicht vorstellen möchte. Für mich Grund genug, dazu beizutragen, dass nicht nur ich, sondern auch viele andere endlich die Schüsse hören.
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