LEADERSNET veröffentlicht nun regelmäßig Interviews, Porträts und Servicegeschichten von aehre. Dabei befasst sich das Nachhaltigkeits-Businessmagazin stets mit einem der zentralen Themen der Gegenwart: Nachhaltigkeit, in allen ihren Facetten von Environment über Social bis Governance.
Nachdem es in der vergangenen Woche um die Zukunft der Wasserwirtschaft gegangen war, zu dem der Hydrologe und Meteorologe Dr. Johannes Cullmann im Interview mit aehre sprach, geht es in dieser Woche um ein Myzel, das zum Role-Model der Kreislaufwirtschaft wird. Dafür war aehre zu Besuch in der Manufaktur von Sirkka Hammer, die Lebensmitteln durch Fermentation zu einem langen Leben verhilft.
Text: Sonja Planeta
"Bei uns schaut’s wild aus, oder?" schmunzelt Sirkka Hammer. Ihr Blick fällt auf eine Reihe von Einmachgläsern, die mit einer braunen Paste gefüllt sind. "Algensalat" steht auf einem der Gläser, "Wakame" auf einem anderen. Der Inhalt erweckt den Eindruck, dass wild nicht unbedingt der passende Ausdruck dafür ist. Lebendig trifft es da schon eher.
Sirkka Hammer betreibt Wiens erste Koji-Manufaktur Wiener Miso, die sich auf Würzpasten und Sojasoßen auf Basis traditioneller, japanischer Fermenten spezialisiert hat. Koji ist in dem Fall gedämpfter Reis, der mit dem Schimmelpilz Aspergillus oryzae beimpft und auf diese Weise fermentiert wird. Der fertige Koji-Reis schmeckt leicht süßlich, hat ein pilzig-nussiges Aroma und dient als Starter unter anderem für die Herstellung von Miso, Mirin, Sake und Amazake, einem trüben Reisgetränk, das als pflanzliche Milchalternative zum Einsatz kommt. "Um zu fermentieren, braucht es Mikroorganismen. Entweder Bakterien oder Funghi, beispielsweise Hefe oder ein Myzel. Der Aspergillus wächst auf natürliche Weise auf Reishalmen."
Aller Anfang. Wird Reis mit dem Schimmelpilz Aspergillus oryzae beimpft, erhält man eine Basis zur Fermentation © Shutterstock
Lebendige Nahrung
Sirkka Hammer trifft mit ihrer Manufaktur einen Zeitgeist. Es geht um die Anwendung jahrhundertealter Techniken des Haltbarmachens, aber unter erweiterten Gesichtspunkten wie Zero Waste, Kreislaufwirtschaft und Regionalität. Hammer bezieht ihre Grundprodukte in Bio- oder Demeter-Qualität oder aus Wildsammlung vorwiegend aus Österreich. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Sushi-Reis aus Norditalien, Meersalz aus Nin in Kroatien und Koji-Sporen aus Japan.
Angetreten ist Hammer mit dem Vorhaben, das Thema "Fermentation" in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Als sie ihr Unternehmen 2019 startet, gibt sie Workshops für Gastronom:innen und schult Köchinnen sowie Köche, unter anderem in der Großküche eines Pensionistenheims. Produziert wird damals nur in Kleinstmengen, "besondere Specials", wie sie sagt, etwa für die Bäckerei Joseph Brot oder das vegetarische Sternerestaurant TIAN. Mit der Schließung der Gastronomie während Corona beginnt sie, die bereits entwickelten Produkte in größeren Mengen zu produzieren und an Endverbraucher:innen zu verkaufen. Heute sind es in Summe zwei Tonnen pro Monat, die aus ihrer Stadtmanufaktur hervorgehen; mehr soll es auch nicht werden.
»Mir ist wichtig, dass Fermentation auch wieder in Familien präsent wird, nicht nur in der Gastronomie.« Sirkka Hammer
Hammer versteht ihre Manufaktur in erster Linie als Labor, um Dinge auszuprobieren. Aktuell experimentiert sie mit Okara, einer Art Trester, der bei der Tofuherstellung anfällt und als Tierfutter verwertet wird, in der menschlichen Ernährung trotz seiner Nährstoffe jedoch kaum Verwendung findet. Wenn die Versuche gelingen, will Hammer zwei neue, Okara-basierte Produkte auf den Markt bringen. "Fermentation hat in Österreich und generell in Europa eine lange Tradition. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie am Tag zwei bis drei Fermente zu sich nehmen. Das fängt bei Kaffee und Tee am Morgen an, geht weiter mit Sauerteigbrot, Käse, Joghurt, Salami, Sauergemüse und hört abends mit Bier und Wein auf." Die Krux an der Sache ist nur: Die von Sirkka Hammer genannten Fermente sind in der Regel Industriefermente. "Das sind keine Lebensmittel, das sind Totmittel. Die wurden stundenlang durchgekocht, pasteurisiert, sterilisiert, vakuumiert – wie viel Leben kann da noch drin sein?" Wild zu fermentieren bedeutet, mit Kulturen zu arbeiten, die auf natürliche Weise vorhanden sind. Das heißt gleichzeitig, dass das Ergebnis jedes Mal ein wenig anders schmeckt. "Nur dass wir den Geschmack eines natürlichen Ferments verlernt haben; genauso wie dessen Herstellung. Mir ist wichtig, dass Fermentation auch wieder in Familien präsent wird, nicht nur in der Gastronomie."
Rückkehr in europäische Esskultur
In ihren Workshops lernen die Teilnehmer:innen, dass Fermentation lebendige Nahrung bedeutet: Es bewegt sich, blubbert und schäumt in den Gläsern, manches läuft über. Deswegen ist der Inhalt aber nicht schlecht. "Ich habe in jedem Kurs Leute sitzen, die Angst haben, sich zu vergiften, wenn sie die Fermente probieren. Bakterien sind keine Feinde. Unser 1,2 Kilogramm schweres Mikrobiom im Magen und Darm besteht aus nichts anderem. Ohne diese Vielfalt könnten wir gar nicht leben. Sterilität und Sauberkeit ja, aber in einem vernünftigen Maß." 50 Prozent ihrer Arbeit sei nach wie vor Aufklärung, auch wenn Miso und Fermentation vielen Menschen mittlerweile ein Begriff sind. Auch das Thema "Haltbarkeit" poppe immer wieder auf und damit das Unverständnis, warum Hammer auf ihren Produkten keine Mindesthaltbarkeitsdauer von mehreren Monaten geben kann. "Das ist durch den natürlichen Kreislauf nicht möglich. Lebensmittel haben nur eine geringe Haltbarkeit."
»Ich hätte wohl kein Miso gemacht, wenn ich nicht herausgefunden hätte, dass Soja in Österreich so gut wächst.« Sirkka Hammer, Wiener Miso
Sirkka Hammer stammt aus einer Gastronomenfamilie aus dem Schwarzwald. Sie studierte Kunst und Kommunikationsdesign in Helsinki und verdiente ihr Geld in der visuellen Kommunikation, bis sie entschied, auszusteigen und nach Asien zu gehen. Fast elf Jahre lang lebte und arbeitete sie in Hongkong, wo sie ihr eigenes Café-Restaurant leitete. Die Abschaffung der Demokratie und Meinungsfreiheit nach der Übernahme Hongkongs durch China und die damit einhergehenden Unruhen rund um das "Yellow Umbrella Movement" zwangen sie schließlich zur Rückkehr nach Europa.
"Bevor ich ging, habe ich ein Jahr bei einer japanischen Freundin gearbeitet, die einen Healthfood-Store hatte und selber Misopasten und andere asiatische Fermente herstellte. Bei ihr habe ich die Basics gelernt und eigene Produkte entwickelt." In Österreich vermisst Hammer den Umami-Geschmack. "Ich hätte wohl kein Miso gemacht, wenn ich nicht herausgefunden hätte, dass Soja in Österreich so gut wächst, noch dazu in Bioqualität." Miso ist eine fermentierte Bohnenpaste aus Sojabohnen, Getreide und Koji, die ihren Ursprung in China hat. Die Konsistenz ähnelte anfangs einer dickflüssigen Sojasoße, genannt Chang. Buddhistische Mönche brachten das Ferment nach Japan, wo man es perfektionierte und eine Trennung in flüssige Sojasoße und feste Misopaste vornahm. Bedeutung erlangte Miso vor allem zu jener Zeit, in der es der japanischen Bevölkerung verboten war, Tiere zu domestizieren und zu schlachten. Die Paste, eine Kombination aus Kohlenhydraten und Proteinen, half den Menschen, Mangelerscheinungen vorzubeugen; sie enthält alle 22 essenziellen Aminosäuren, die der menschliche Körper braucht.

Umami-Note. Für sein Dessert "Birne, Toffee, Badger Flame" verwendet TIAN-Patissier Thomas Scheiblhofer Miso © Simone Holzner
Mittlerweile ist nachgewiesen, dass Miso auch krebsvorbeugend wirkt. "Fermentierte Produkte halten länger, Soßen und Pasten müssen nicht unbedingt gekühlt werden. In Asien, wo es heiß ist und nicht jeder einen Kühlschrank besitzt, sind Fermente ein relevanter Bestandteil der Ernährung."
Veredelte Lebensmittel
Sirkka Hammer verwendet für ihre Würzpasten verschiedene (Ur)Getreidesorten, aber auch Pseudogetreide wie Hirse. Sie ersetzt Sojabohnen durch Kichererbsen, Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne oder Mohnsamen und ergänzt die Zutatenliste um Gemüse. Das "Badger Flame Miso" enthält die gleichnamige gelb bis grellorange leuchtende Rübe, die in Österreich erstmals von der Marktgärtnerei Krautwerk in Zusammenarbeit mit dem Restaurant TIAN angebaut wurde. Ebenfalls fürs TIAN reifen in Hammers Manufaktur "Purple Carrot Miso" und Haselnuss-Pastinaken-Miso.
Altbrot von Joseph Brot landet im "Waldviertler Roggen Honig Lavendel Brotmiso". "Wichtig ist, zu verstehen, wie Mikroorganismen arbeiten. Was brauchen sie, um gut gedeihen zu können, wo ist die Grenze? Das ist Biochemie." Sirkka Hammer gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass Fermentation nur bedingt als Zero-Waste-Lösung taugt. "Aus einer alten Rübe kann ich kein supergut schmeckendes Ferment machen. Fermentation ist keine Zauberkiste. Es ist ein gesteuerter Verrottungsprozess. Schlechte Mikroorganismen werden ausgeschlossen, indem die guten gefördert werden. Irgendwann erreicht das Ferment seinen Peak. Danach kann man es immer noch essen, es ist aber vermutlich kein Geschmackserlebnis mehr."
SLOW FOOD
Jede Produktentwicklung beginnt für Sirkka Hammer in der Erde. Welches Saatgut wurde verwendet, wie der Boden bewirtschaftet? Weil ihr Ursorten wichtig sind, ist Hammer in ständigem Austausch mit Demeter-Bauer Martin Allram und dem Verein Arche Noah, der sich für den Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt einsetzt. Zudem engagiert sie sich im Verein "Soja aus Österreich".
Lebendig. Sirkka Hammer stellt ihre Pasten traditionell nach dem japanischen Artisan-Verfahren her © Michael Reidinger
Sie arbeitet regelmäßig mit der Universität für Bodenkultur in Wien zusammen und mit Professor Johann Vollmann, der am Universitäts- und Forschungszentrum Tulln über 3.000 Soja-Genotypen hütet. Die Sojabohne ist für sie das Poster-Child der Proteinwende: "Man muss sich nur in anderen Ländern umschauen: Immer geht es um die Kombination aus Kohlenhydraten und Proteinen, damit es unserem Körper gut geht. In Indien sind es Reis und Linsen, in Mexiko Mais und Bohnen. Europa ist eine Fleischnation, wir haben Brot und Wurst. Wenn wir das fleischliche Protein ersetzen wollen, bietet sich die Sojabohne an, sie gilt als beste pflanzliche Proteinquelle." Mittels Fermentation könne man auch gleich noch das Thema "Nachhaltige Abfallwirtschaft" vorantreiben: "Es geht darum, Kreisläufe zu schließen. Ich kann Schalen und Abschnitte verwenden, Gemüse, das nicht der Schönheitsnorm entspricht. Wir nennen das Abfall, in Wahrheit sind es hochwertige Grundzutaten. Es geht beim Fermentieren um Resteverwertung; darum, dass das, was wir aus dem Boden rausholen, zu 100 Prozent verwendet wird." -
Mehr zum Thema Nachhaltigkeit finden Sie im neuen Nachhaltigkeits-Businessmagazin aehre auf www.aehre.media und in der neuen Ausgabe.
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