LEADERSNET: Sehr geehrte Frau Lenk, mit einer aktuellen Inflationsrate von 4,1 Prozent im August 2025 stehen Sie täglich im Spannungsfeld zwischen nackten Zahlen und deren gesellschaftlicher Interpretation. Viele Menschen spüren das täglich im Supermarkt. Wie erklären Sie jemandem am besten, warum eine Zahl auf dem Papier so spürbar im Alltag wird?
Manuela Lenk: Die Inflationsrate klingt auf den ersten Blick nach einer abstrakten Kennzahl, die im Alltag nur schwer greifbar ist. Tatsächlich aber spüren wir als Konsument:innen sehr wohl, wenn sich die Inflationsrate merklich verändert – denn Preissteigerungen bei Konsumausgaben betreffen uns alle. Besonders beim täglichen Einkauf fällt auf, wie stark die Preise gestiegen sind. Gleiches gilt für Energie, Mieten, Freizeitangebote und Dienstleistungen.
LEADERSNET: Diese spürbare Realität führt uns zu einem interessanten Ländervergleich: Während Ihrer Zeit als Vizedirektorin beim Schweizer Bundesamt für Statistik haben Sie die Interoperabilitätsplattform aufgebaut – das zentrale Datenverzeichnis der Schweiz. Die Schweiz gilt mit einer Inflationsrate von unter zwei Prozent als Hort der Stabilität. Was können Sie aus diesen Erfahrungen für Österreich mitnehmen, und welche "Schweizer Tugenden" der Datenerhebung wollen Sie in Österreich etablieren?
Lenk: Meine Zeit in der Schweiz hat mir wertvolle Einblicke in die Weiterentwicklung anderer Statistikbehörden gegeben und mir gezeigt, wie wichtig transparente Kommunikation und Kooperation sind. Diese Erfahrungen möchte ich nutzen, um auch bei Statistik Austria eine moderne, effiziente und vernetzte Dateninfrastrukturen weiterzuentwickeln, die sowohl der Qualität als auch der Nutzerfreundlichkeit zugutekommen. Ich freue mich sehr, meine gesammelten Erfahrungen jetzt in meiner Heimat einzubringen und Statistik Austria weiterzuentwickeln.
LEADERSNET: Sprechen wir über Transparenz in der Praxis: Die geplante Lebensmittelpreis-Datenbank soll bis 2026 entstehen – ein Projekt, das Sie selbst als "sehr ambitioniert" bezeichnen. Welche konkreten Auswirkungen erwarten Sie von dieser Transparenz-Initiative? Wird sie tatsächlich zur Demokratisierung von Preisinformationen führen oder schlummert darin auch die Gefahr einer "Datenflut", die mehr verwirrt als aufklärt?
Lenk: Wir sind gerade dabei, uns ein Bild von den Anforderungen dieses Projektes zu machen. Ja, es ist sehr ambitioniert, aber wir bei Statistik Austria sind zuversichtlich, hier zu einer guten Lösung zu kommen.
LEADERSNET: Preise sind die Sprache der Wirtschaft. Sie sind für uns alle verständlich – und doch so komplex. Welche Geschichten erzählen Ihnen die Preisstatistiken, wenn Sie hinter die nackten Zahlen blicken?
Lenk: Preisstatistiken erzählen mehr, als dass etwas teurer oder billiger geworden ist. Sie erzählen von den Ölpreisschocks der 70er Jahre, von den Wirtschaftskrisen der letzten 100 Jahre oder den Energiepreisanstiegen und darauffolgenden Maßnahmen der letzten Jahre. Sie zeigen die Vielfalt unseres Lebens und unserer Wirtschaft und auch die Heterogenität der Preisgestaltung zwischen den Branchen. Preisstatistiken sind also nicht bloße Zahlenreihen, sondern auch Indikatoren für wirtschaftliche Dynamiken, gesellschaftliche Trends und politische Herausforderungen. Preisstatistiken helfen, das große Ganze zu verstehen.
LEADERSNET: Mit der neuen Preisdatenbank für Lebensmittel schafft Statistik Austria ein Stück Transparenz. Können Sie ein Beispiel geben, wie diese Daten konkret helfen können – etwa wenn Konsument:innen wissen wollen, ob Butter in Wien teurer ist als in Innsbruck?
Lenk: Wie gesagt, das Projekt Preisdatenbank ist noch in der Anfangsphase. Eine Transparenzdatenbank der Einzelpreise würde den direkten Preisvergleich erleichtern. Wir kennen solche Beispiele für Telekommunikation, den Energiesektor oder den Benzinpreismonitor. In vergleichbarer Art könnte ich mir vorstellen, dass so eine Preisdatenbank sehr hilfreich ist.
LEADERSNET: Bleiben wir beim Thema Lebensmittel, aber betrachten wir es aus einem anderen Blickwinkel: Österreich gibt jedes Jahr Milliarden für Lebensmittel aus. Gleichzeitig zeigen Erhebungen, dass wir rund ein Drittel davon wegwerfen. Was verraten die Daten über unsere Konsumgewohnheiten – und welche Verantwortung trägt Statistik bei solchen gesellschaftlichen Themen?
Lenk: Statistik Austria trägt dazu bei, komplexe gesellschaftliche Herausforderungen messbar und nachvollziehbar zu machen. Ob Klimawandel, Konsum oder Digitalisierung – wir liefern die Daten, die Trends aufzeigen und Entwicklungen dokumentieren. So können Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, Forschende und die Öffentlichkeit die Sachlage umfassender nachvollziehen und geeignete, faktenbasierte Einschätzungen treffen. In einer zunehmend datengetriebenen Gesellschaft wollen wir bei Statistik Austria nicht nur Schritt halten, sondern aktiv Impulse setzen. Wir werden uns weiterhin um Vertrauen bemühen, indem wir unsere Methoden offenlegen, Daten transparent bereitstellen und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit intensivieren. Zudem wollen wir Missverständnisse und Fehlinterpretationen aktiv begegnen und die statistische Bildung fördern.
LEADERSNET: Das Thema Vertrauen führt uns zu einer grundsätzlichen Herausforderung: In der EU gelten harmonisierte Methoden zur Inflationsmessung (HVPI). Trotzdem vergleichen viele Menschen lieber die Preise am Regal. Wie gehen Sie mit der Skepsis um, dass "die offizielle Inflationsrate nicht meine Realität widerspiegelt"?
Lenk: Die Inflationsrate misst die Preisveränderungen über die Zeit auf einem hoch aggregierten Niveau und enthält die regionalen oder auch kleinräumigen Preissteigerungen. Ob sich Preise in einer ausgewählten Region wie der Durchschnitt verhalten, sagt die Inflationsrate nicht aus. Es ist aber eine objektive Zahl, die auf tatsächlich erhobenen Preisen basiert. Sie ist keine Prognose für die Zukunft, sondern bildet die jüngste Vergangenheit ab. Der Inflationsmessung liegen die durchschnittlichen Ausgaben der Österreicher:innen zugrunde. Dabei wichtig: Diese entsprechen aber nicht dem individuellen Ausgabenprofil. Das kann man in unserem persönlichen Inflationsrechner auf unserer Homepage selbst berechnen. Wenn ich vegetarisch lebe, dann habe ich weniger Ausgaben für Fleisch als der Durchschnitt. Auch wenn die individuelle Entwicklung abweicht, so ist es doch positiv, ein Gesamtmaß zu haben, das für Entscheidungen für unsere Gesellschaft herangezogen werden kann.
LEADERSNET: Zum Abschluss eine persönliche Frage: Statistik Austria gilt als "Gedächtnis der Republik". Welche Zahl oder Entwicklung der letzten Jahre hat Sie persönlich am meisten überrascht – vielleicht etwas, das nicht in den Schlagzeilen gelandet ist?
Lenk: Oft entdeckt man spannende Entwicklungen, die kaum Aufmerksamkeit in den Medien bekommen, dabei aber viel über unsere Gesellschaft verraten. Etwa die kontinuierlich steigende Zahl an über 80-Jährigen, was enorme Auswirkungen auf Pflege, Wohnen und Mobilität hat. Oder die Tatsache, dass immer mehr Menschen in Einpersonenhaushalten leben – ein Trend, der leise, aber gesellschaftlich weitreichend ist. Auch Daten zur Freizeitgestaltung oder zum digitalen Nutzungsverhalten zeigen, wie sehr sich unser Alltag verändert – ganz ohne große Schlagzeilen. Ich bin immer wieder überrascht, wie umfangreich und vielfältig das Datenangebot von Statistik Austria ist. Man begegnet häufig interessanten statistischen "Schmankerln". Wussten Sie, dass der häufigste Geburtstag in Österreich der 26. September ist? Dass junge Menschen in Österreich mit durchschnittlich 24 Jahren von zu Hause ausziehen? Oder dass 74 Prozent der Käferbohnenerntemenge aus der Steiermark kommt?
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