"Wir arbeiten völlig losgelöst von Orten und Offices"

Stefan Häckel, Chief Growth Officer bei Virtue Worldwide, erklärt im Interview, was eine Borderless Agency ist und wie man remote und global Wachstum sowie Kreativität fördern und befeuern kann. 

LEADERSNET: Virtue arbeitet als "Borderless Agency" schon seit Jahren losgelöst von Orten und Offices und lebte "New Work" schon vor der Pandemie. Was kann man sich unter der "Borderless Agency" und diesem Konzept vorstellen?

Häckel: Wir nehmen uns seit einiger Zeit vor, die Kreativagentur einer neuen Zeit zu sein, um auch für die Zukunft gerüstet zu sein. Darum entwickeln wir schon seit 2018 unsere Organisationsform in Richtung Borderless. Erstens, weil wir - anders als andere Agenturen - nicht von einem Head Quater aus andere Offices gelauncht haben, sondern viele eigenständige Offices waren, die wir zu einer globalen Organisation zusammenführen wollten. Und zweitens, weil wir an ebendiese Organisationsform herkömmlicher Netzwerkagenturen nicht glauben. Wir waren damals schon davon überzeugt, dass die Logik globaler Netzwerkagenturen sich als die Summe autarker Offices zu begreifen überholt hat, weil sie starr und teuer ist.

Mit Boderless begreifen wir uns als eine globale Agentur mit vollständig integrierten Offices. So haben wir es mit unserer Borderless Strategie noch vor der Pandemie geschafft, uns als eine globale Organisation mit einer globalen Profit & Loss zu strukturieren. Bei uns existiert jede Leadership Rolle nur einmal und wenn man alle Mitarbeiter:innen, die über alle Offices verteilt sind, übereinanderlegt, ergibt sich eine globale Agentur für die neue Zeit: agil, adaptiv und voller Fähigkeiten auch aus dem Vice Universum. Und diese eine globale Agentur arbeitet auch Borderless für ihre Kunden, da wir je nach Herausforderungen und Bedürfnissen unsere Teams sowohl Projekt basiert als auch für Bestandskunden quer über Offices von lokaler über regionaler zu globaler Expertise organisieren und managen können.

LEADERSNET: Inwiefern hat Corona dieses moderne Arbeits-Konzept bestätigt und auch vielleicht verändert und Entwicklungen beschleunigt?

Häckel: In der Pandemie war anfangs keine Lernkurve steiler als die der Videotelefonie. Natürlich hat Corona unsere New Work Entwicklungen beschleunigt und auch bestätigt. Wir haben uns von physischen Präsentationen sofort verabschiedet – bis hin zum eigentlichen Präsentationsdokument, das fortan nur mehr in der Cloud existiert. Dadurch haben wir wieder neue Arbeitsweisen losgetreten, die wieder andere Abstimmungswege kennen wie beispielsweise Kommentare direkt im Dokument anstelle eines persönlichen Gesprächs. Anhand solcher Beispiele haben wir gesehen, wie sich die Produktivität entwickelt. Was uns allerdings auch schnell klar war: das Verlorengehen menschlicher und spontaner Interaktion, was zulasten der Kreativität und der Verbindung zum Team und zum Unternehmen gehen kann. Dadurch hat sich unsere Borderless Denke schnell weiterentwickelt, wie man zwar grenzenlos, aber verbindlich sein kann mittels neuer und anderer Call- und Austauschformate aus den Teams, aber auch für den Standort und die Region. Gleichzeitig haben wir das Interesse und manchmal richtiggehend einen Hunger unserer Leute gesehen für internationale Kunden auch aus Wien heraus arbeiten zu können. Unser Borderless Konzept ermöglicht Alltage, an denen man vormittags für einen lokalen Kunden arbeitet, mittags in einem globalen Updatemeeting ist und nachmittags Teil eines Pitchteams für einen Kunden in UK ist. ‚Borderless‘ ist ein Benefit, den keine andere Agentur so bieten kann.

LEADERSNET: Gibt es eigentlich "remote creativity" und wie kann man diese sicherstellen? Oder anders gefragt: Was bedeutet es für die Zusammenarbeit mit internationalen Talenten im praktischen Agenturalltag, wenn zum Beispiel der Kreativchef in Amsterdam sitzt und sein Team europaweit verstreut?

Häckel: Was alle Jobs und Aufgaben, die man aus der Distanz macht, verbindet: ein bestimmtes Maß an Selbstorganisation und -disziplin ist ebenso wichtig wie die eigentliche Kernkompetenz. Insofern haben wir gesehen, wie sich Kreativität auch auf Distanz sehr gut entfalten kann, wie unterschiedliche Inputs zu relevanten Entwicklungen führen und Leute, und damit auch ihr Output, aneinander echt wachsen können. Das bedarf einerseits einer Durchlässigkeit, sowie einer Einladung zum Diskurs und der Entwicklung seitens der Kreativen, die vielleicht anders oder neu ist. Sowie andererseits auch das Bekenntnis zu Managementfähigkeiten, die im physischen Office mit einem lokalen Team bestimmt weniger wichtig waren. Der absolute Benefit für uns sind aber Situationen, in denen man zum Beispiel von einem Kreativdirektor aus Kopenhagen einen im Projekt noch nicht gesehenen Zugang vorgestellt bekommt, der die bisherige Arbeit auf ein neues Level hebt. Oder wenn ein anderer Kreativdirektor aus Amsterdam zur vorliegenden Idee noch bessere Talente oder einen passenderen Claim entwickelt.

Das Management selber ist dann trivialer als man denkt. Das läuft einfach über unterschiedliche Call Formate für Check-Ins, Updates und Inspiration, basierend auf Präsentationen in der Cloud und auf gemeinsame Kommunikations- und Projektmanagement Tools wie Slack oder Basecamp, auf die alle Zugriff haben. Wichtig ist die Mischung aus fachlicher Expertise und Disziplin.

LEADERSNET: Wie gehen Kunden mit dem Konzept einer "Borderless Agency" um? Sind die österreichischen Kunden "bereit" für diesen Ansatz?

Häckel: Sowohl Kunden als auch Agenturen sind sich bewusst, dass die tradierten Agenturmodelle und -mandate, die sich an den klassischen Disziplinen orientieren, nun auch hierzulande im Auslaufen begriffen sind. Heute geht es immer mehr um einen Pool von Experten, um neue Wege der Kooperation anstelle der Konkurrenz, um das Anzapfen von Expertise und Exzellenz in den relevanten Bereichen, um gemeinsam erfolgreiche Marken- und Produktkommunikation in unserer komplexen Welt zu realisieren. Diese neuen und wichtigen Zugänge zu einer Konvergenzüberzeugtheit anstelle einer Kanalhoheit seitens der Kunden trifft sich sehr gut mit unserem Borderless Agency Konzept. Es erlaubt zudem einen flexiblen Einstieg in Agenturmodelle oder – Pools, da wir uns nach Herausforderungen und Bedürfnissen optimieren können – mit lokaler, regionaler oder internationaler Expertise und Kooperationsfähigkeit.

Ich kenne wenige Kunden, die theoretisch dafür nicht bereit sind. Die Frage ist aber eher, ob man das auch praktisch ist, beziehungsweise sein kann – oder will - als Kunde. Jeder Kunde hat eigene Realitäten, Möglichkeiten und Einschränkungen. Unserer Erfahrung nach steigt die Bereitschaft aber spätestens mit stagnierender Wirkung bisheriger Kampagnen und Maßnahmen und steigendem Anspruch an Kommende.

LEADERSNET: Welche Arbeitsmodelle bietet Virtue seinen Mitarbeiter:innen an? Inwiefern fordern Mitarbeiter:innen neue Arbeitsmodelle ein – was sind die wichtigsten Punkte für das Team? Inwiefern unterscheiden sich Forderungen und Bedürfnisse zum Beispiel nach Altersgruppe, Geschlecht, Funktion?

Häckel: Die erste Phase nach den Lockdowns war gekennzeichnet durch Regeln, wie man das Office betreten und wie man sich darin bewegen kann. Nun geht es in eine Phase über, in der man nicht Anwesenheiten sondern Arbeitsweisen regeln muss. Dazu haben wir global drei Modelle erarbeitet, die wir unseren Mitarbeiter:innen anbieten: Arbeit hauptsächlich von zu Hause, hauptsächlich aus dem Büro oder hybrid. Für alle drei Modelle gibt es rollen- und jobspezifische Notwendigkeiten oder eben Freiheiten quer durch unser Unternehmen. Weltweit haben sich 85 Prozent unserer Mitarbeiter:innen für ein hybrides Arbeitsmodell aus Home Office und Office entschieden, was sich auch hier sehr gut mit unserer Borderless‘Strategie deckt. Hybride Modelle vereinen für uns das beste aus der alten und der neuen Welt: die Möglichkeit, sich mit seinen Kolleg:innen und Teams tageweise in Person zu treffen, sich auszutauschen und auch die wichtigen spontanen Interaktionen zu haben. Gleichzeitig aber auch die Möglichkeit, tageweise nur virtuell erreichbar zu sein und eine andere Qualität der Arbeit zu nutzen. Wichtig ist jedoch immer, den Anschluss zu den Kolleg:innen, aber auch zur Identität des Unternehmens, zum großen Ganzen nicht zu verlieren.

Aber es geht darüber hinaus, weil man sich in Zeiten einer Pandemie, auch eben gerade wegen der Distanz vermehrt auch mit Sinnfragen beschäftigt. Hier sehen wir weder altersspezifische noch geschlechterspezifische Unterschiede. Vielmehr das Zwischenresultat einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich über alle Sparten zieht.

LEADERSNET: Was sind die neuen Ansprüche an das Office – seitens des Leadership-Teams, seitens der Mitarbeiter, seitens der Kunden?

Häckel: Diese Frage ist noch nicht beantwortet. Von uns nicht, von niemandem. Uns allen ist klar, dass das Office immer ein wichtiger Ort der Begegnung und des Austauschs sein wird. Gleichsam klar ist, dass es das nicht immer und täglich sein wird – und auch nicht mehr sein muss. Der Anspruch ans Office wird sein, dass es unterschiedliche Arbeitssituationen und Programmierungen zulässt. Individuell fokussiert, offen im Team, Kunden oder Projekt bezogen und auch Platz für Partner, sowie ausreichend Ruhe- und Sozialbereiche. Wir sind nicht nur physische Nomaden geworden und wollen an unterschiedlichen Tagen an unterschiedlichen Orten arbeiten, wir sind auch emotionale Nomaden geworden und wollen, dass sich diese Tage auch unterschiedlich anfühlen und ihre eigenen Benefits haben. Unser Anspruch als Leadership Team ist dem gerecht zu werden. Daher arbeiten wir auch am Umzug in ein neues Office, das diesen Ideen und Konzepten wesentlich besser gerecht wird als unser aktuelles.

LEADERSNET: Wie stellt Virtue sicher, dass die Unternehmenskultur mit weniger physischer Interaktion weitergelebt, gespürt und gestaltet werden kann? Was zeichnet die Unternehmenskultur aus?

Häckel: Wir sind uns im Klaren darüber, dass wir für das Leben unserer Unternehmenskultur als noch immer junge Agentur mit unserem fordernden, aber auch fördernden Borderless Konzept einen reifen Umgang mit Werten und Prinzipien einfordern. Dem Borderless Gedanken folgend haben wir mit der Auflösung der singulären Geschäftsführung hin zu einem Leadership Team auch die Prägung der Unternehmenskultur durch einzelne Menschen durch die Prägung allgemein gültiger Werte auf mehreren Schultern ersetzt. Dadurch schaffen wir auch mehrere Anschlussmöglichkeiten für alle Mitarbeiter:innen mit dem Leadership und können so unsere Kultur auch über mehrere Touch Points und Interaktionen leben. Unterstützt von mindestens zwei wöchentlichen, nicht kerngeschäftlich relevanten Plattformen wie Vertrauenspersonen, anonyme Q&As oder Town Hall Meetings mit allen Mitarbeiter:innen und dergleichen mehr. Unabhängig davon wo unsere Mitarbeiter:innen gerade sitzen oder woran sie gerade arbeiten.

Mit unserer Unternehmenskultur wollen wir Personen, Potenziale und Performance sowohl strategisch als auch operativ entwickeln in einer neuen Welt. Wir wollen in dieser komplexen Welt bedeutungsvolle Arbeit liefern und bedeutungsvolle Beziehungen aufbauen auf Basis unseres tiefen kulturellen Zielgruppenverständnisses. Darauf bauen wir unsere Kultur und unsere Mitarbeiter:innen. Anders als in den Jahren zuvor setzen wir nicht mehr hauptsächlich auf junge Menschen, die wir ausbilden, sondern auch auf erfahrene Menschen die jung denken und uns helfen uns und unsere Kultur auf das nächste Level zu heben.

LEADERSNET: Sie sind Chief Growth Officer International. Wie sieht Wachstum bei Virtue aus? Gibt es Wachstumsstrategien im Agentursektor in Zeiten wie diesen überhaupt?

Häckel: Mit dem Begriff Growth besetzen wir bei Virtue ein Mindset, bei dem es uns um die Entwicklung von einem evolutionären Vorteil über die Zeit geht und nicht um einen kompetitiven Vorteil zu einem Zeitpunkt. Wir sind keine Stand-alone Agentur, sondern gehen aus einer Publishing & Entertainment Gruppe, - der Vice Media Group - hervor. So haben wir Zugriff auf Zielgruppen und Publikums Insights über unseren Medienarm Vice und Refinery29 oder unsere Lifestyle Plattform i-D, sowie auf die Expertise von popkulturellem Entertainment über unsere Produktionsärme wie Vice+, das ist unsere Branded Content Produktion oder Pulse, das ist unsere kommerzielle Produktion, oder Vice Studio mit dem wir Serien und Filme produzieren. Wachstum heißt für uns direkt von Zielgruppen zu lernen, um ihre Lebensrealitäten durch unseren Output mitzugestalten. Als Virtue sitzen wir mittendrin, sind eingebettet in der Alltags- und Popkultur, verstehen Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen und bieten diesen Vorteil unseren Kunden an.

Wachstum generieren wir dann, wenn wir daraus Nutzen stiftenden Mehrwert für unsere Kunden generieren, den sie andernorts nicht bekommen. Niemand braucht eine weitere Agentur die Briefings abarbeitet, aber immer mehr brauchen einen adaptiven, agilen Business Partner, der die Challenge hinter dem Briefing lösen helfen kann. Daraus leiten wir ab, dass es immer Wachstumsstrategien für Agenturen gibt, die sich die Mühe machen, sich mit den Konvergenzen zwischen Marke und Produkt, Kampagne und Entertainment, sowie Channel und Experience auseinanderzusetzen. Das machen nur halt sehr wenige und fokussieren noch immer zu stark auf tradierte Stärken und ihren aktuellen Mitbewerb.

LEADERSNET: Die Agentur der Zukunft: wie sieht sie für Sie aus und welche Skills seitens Leadership und Talents machen sie aus?

Häckel: Die Agentur der Zukunft ist eine Full-Understanding Agency, die alle relevanten Zusammenhänge versteht, aber in ihrem Kernbereich Exzellenz und Expertise in der Art einbringt, dass daraus ambitionierte Arbeit entsteht, die das Business des Kunden vorantreibt. Sie beherrscht Innovation, Kreation und Distribution, leistet also einen Beitrag für konsistente und überzeugende Brand Experience quer über die Touch Points. Das tut sie sowohl agil und adaptiv als auch anschlussfähig und skalierbar in Kooperation mit anderen Agenturen aus ihren Spezialgebieten. Die Agentur der Zukunft ist demnach keine Agentur mehr die Werbung macht, sondern ein kreatives Kollektiv, das sich an Herausforderungen und Bedürfnisse anpassen kann, um Menschen für Marken zu begeistern. Dazu ist sowohl im Leadership als auch bei den Talents neues und kollaboratives Denken nötig, das an gemeinsamer Entwicklung und der besten Lösung für den Kunden ehrlich interessiert ist.

Die Zeit der selbstgerechten Schrebergärten und der unehrlichen Lippenbekenntnisse ist vorbei. Hier kann es keinen Unterschied zwischen Leadership und Talents geben, dieses Mindset muss von allen gelebt werden. Erfolgreich angewandt entwickeln sich fast automatisch laufend neue Growth Perspektiven für die Agentur selber. Was sich also kurzfristig wie ein Verlust, wie ein Aufgeben alter Privilegien und Sicherheiten anfühlt ist mittel- und langfristig ein Gewinn und die Absicherung der eigenen Zukunftsfähigkeit. (jw)

www.virtueworldwide.com

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