Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Die Judikative – Bastion der Demokratie

| Redaktion 
| 19.10.2025

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Eine funktionierende Demokratie ruht auf drei, mitunter vier Grundpfeilern: der Legislative (Gesetzgebung), der Exekutive (Verwaltung), der Judikative (Rechtsprechung). Diese müssen, folgt man den einschlägigen Lehrbüchern, geteilt und voneinander unabhängig sein, und hier kommt dann meist die sogenannte "vierte Gewalt" ins Spiel: die freien Medien, deren Aufgabe es ist, Kontrolle auszuüben und Missstände aufzudecken.

Demokratie in Gefahr 

Soweit die Theorie. In der Praxis jedoch können wir weltweit, zunehmend auch in Europa, beobachten, dass diese Säulen nicht nur bedroht, sondern in Abschaffung begriffen sind. Die Legislative wird anfällig, wenn extreme politische Kräfte in Parlamente einziehen und demokratische Spielräume missbrauchen, um die Demokratie selbst auszuhöhlen. Genau deshalb sehen moderne Verfassungen, wie das deutsche Grundgesetz, die Möglichkeit eines Parteienverbots vor – als ultima ratio, um die Verfassung zu schützen. Wenn Parteien der Mitte dieses Instrument nicht einmal prüfen, wie im Fall der AfD, tragen sie indirekt dazu bei, dass demokratische Institutionen geschwächt werden. Viele Länder verfügen gar nicht über die Möglichkeit eines Parteienverbots, weil davon ausgegangen wird, dass die anderen unabhängigen Gewalten hier regulierend eingreifen – Stichwort Verfassungstheorie oder Checks and Balances in den USA.

Auch die Exekutive kann ins Wanken geraten – dann nämlich, wenn Verwaltungen sich willfährig in den Dienst politischer Interessen stellen. Wir sehen dies in Staaten, die sich zwar noch demokratisch nennen, deren Verwaltung aber längst von Loyalität statt Legalität geprägt ist. Hinzu kommen Medien, die, anstatt unabhängig zu kontrollieren, von Oligarchen aufgekauft, gleichgeschaltet oder von staatlicher Förderung abhängig gemacht wurden. Wer sich von Geldgeber:innen, Werbekund:innen oder Machtzentren vereinnahmen lässt, verliert seine Unabhängigkeit.

Was bleibt also als letzte Instanz? Die Judikative.

Natürlich war die Justiz nicht immer makellos: Weder in Deutschland noch in Österreich hat sich die Richterschaft während der NS-Zeit mit Ruhm bekleckert. Jüdische Jurist:innen wurden ausgeschlossen, Unrechtsurteile im Namen des "Volkswillens" gefällt. Und doch: In demokratischen Zeiten war die Judikative meist jene Kraft, die Stabilität und Rechtsstaatlichkeit garantierte, wenn andere versagten. Gerichte und Richter:innen bildeten sozusagen die letzte Bastion einer funktionierenden Demokratie.

Heute wird aber selbst diese unterwandert. In den USA sehen wir, wie die Besetzung des Supreme Court zunehmend zur politischen Kampfzone wird. Entscheidungen folgen dort weniger juristischen Prinzipien als parteipolitischen Weltbildern und führen die Rechtsprechung in die Denkweise des 18. Jahrhunderts zurück.

Justiz als Zielscheibe

Selbst in Österreich erhalten Richter:innen Todesdrohungen, weil sie nach öffentlicher Meinung, beeinflusst durch linke Extreme, ein krasses Fehlurteil gefällt hätten. Der sogenannte "Fall Anna" schlug hier jüngst hohe Wellen. Das Verfahren hat die Öffentlichkeit zutiefst bewegt – zu Recht, denn der Tatvorwurf war entsetzlich. Nach monatelangen Verhandlungen kamen jedoch Richter:innen und Schöff:innen, die den gesamten Prozessverlauf kannten, zu einem Freispruch. Was folgte, war ein digitaler und medialer Sturm: Beleidigungen, Drohungen, Hass, ja sogar Mordaufrufe gegen den Richter. Dass Menschen emotional reagieren, ist verständlich. Dass jedoch ganze Medien den Ton vorgeben und Politiker:innen diesen Zorn befeuern, ist gefährlich. Denn hier wird der Rechtsstaat zum Feindbild und die Justiz zur Zielscheibe. Auch ich persönlich halte den Fall für unfassbar und bin angewidert, aber ich kenne eben nur die mediale Darstellung und nicht die Akten, insofern maße ich mir nicht an, das Urteil – buchstäblich – zu beurteilen.

Ähnlich verhält es sich, wenn in anderen Verfahren – etwa gegen politische Entscheidungsträger wie den früheren ÖVP-Klubobmann Wöginger – Urteile reflexartig entlang der Parteilinien mit lautem Aufschreien kommentiert werden: Die einen wittern eine Verschwörung, die anderen ein Versagen. In beiden Fällen aber geht es längst nicht mehr um Recht, sondern um Stimmung.

Ohne Gerechtigkeit kann keine Demokratie bestehen 

Natürlich sind Richter:innen nicht unfehlbar, Fehler passieren auch in der Justiz. Aber wer den gesamten Rechtsstaat pauschal infrage stellt, nur weil ihm ein Urteil nicht passt, sägt an einem tragenden Pfeiler unserer Demokratie. Wenn die Bevölkerung das Vertrauen in die Gerichte verliert, verliert sie das Vertrauen in Gerechtigkeit selbst. Und ohne Gerechtigkeit kann keine Demokratie bestehen.

Man mag solche Warnungen für übertrieben halten, bis man in Filmen wie etwa "The Purge" vor Augen geführt bekommt, wohin völlige Rechtlosigkeit führen kann: in eine Gesellschaft, in der Gewalt, Rache und Willkür das Recht ersetzen. Natürlich ist das Fiktion, aber die Mechanismen beginnen subtil, nämlich mit der Erosion von Vertrauen.

Deshalb müssen wir uns bewusst machen: Der Rechtsstaat lebt nicht nur von Gesetzen, sondern vom Vertrauen, dass sie unabhängig angewendet werden. Wir alle – Bürger:innen, Medien, Politik und Wirtschaft – tragen Verantwortung, diese Unabhängigkeit zu schützen. Denn wer die Justiz schwächt, bereitet den Boden für Willkür, und die ist alles andere als ein Fortschrittsmotor. Wenn wir also über die Zukunft der Demokratie sprechen, dann sollten wir uns im Klaren darüber sein, dass es ohne starke, unabhängige Gerichte keine Freiheit und keine Sicherheit gibt – und damit auch keine Gerechtigkeit.

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