Geneigte Leser:innen, wahrscheinlich kennen Sie dieses Gefühl: Kaum ist der Urlaub vorbei, denkt man sich, wie schnell er doch vergangen ist. Ich selbst war heuer noch nicht weg, und trotzdem habe ich das Empfinden, dass Tage, Monate – ja, ganze Jahre – im Eiltempo verfliegen. Eben war noch Weihnachten, und schon steht das nächste vor der Tür.
Früher habe ich meine Mutter belächelt, wenn sie sagte: "Je älter du wirst, desto schneller vergeht die Zeit." Objektiv betrachtet ist das natürlich Unsinn – eine Minute bleibt eine Minute, eine Stunde eine Stunde. Und doch haben viele Menschen das Gefühl, dass alles immer rasanter wird. Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine zunehmend schnelllebige Welt: Informationen prasseln im Minutentakt auf uns ein, und das Gefühl, ständig etwas zu verpassen, begleitet uns. Moderne Hilfsmittel, allen voran die Künstliche Intelligenz, sollen uns eigentlich Zeit sparen, paradoxerweise treiben sie die Beschleunigung oft noch mehr an.
Irgendwann kommt der Punkt, an dem man Bilanz zieht: Was habe ich noch nicht gemacht? Was möchte ich unbedingt noch erleben? Manche schreiben dafür Listen – die berühmte "Bucket List". Doch je mehr man darüber nachdenkt oder versucht, Punkte abzuhaken, desto schneller scheint sich das Rad zu drehen. Ungeduld macht sich breit, mit sich selbst und dem Umfeld. Die Fragen werden existenzieller: Was bleibt von mir? Habe ich genug beigetragen – für Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Frieden?
Zeitlich begrenzte Projekte
Viele spüren dieses Abwärtsdrehen. Wie kann man es stoppen? Eine allgemeingültige Antwort habe ich nicht, hier muss jede:r seinen eigenen Weg finden. Ich persönlich versuche, bewusst aus dem Alltag auszusteigen und mein Leben von außen zu betrachten. Ich versuche Vorhaben – typisch deutsch – als zeitlich begrenzte Projekte zu betrachten, die ich so plane, dass ich sie an einem klaren Punkt abschließen oder übergeben kann. Dann beginnt ein neuer Abschnitt. Einfacher gesagt als getan, so viel ist klar. Mir hilft dabei ein alter, vielleicht abgedroschener Satz aus dem Buch Kohelet (Prediger), Kapitel 3: "Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit..." – der Rest lohnt sich, nachzulesen.
Während ich nun persönlich das Gefühl habe, die Zeit rennt, habe ich leider den Eindruck, dass es in der Politik genau umgekehrt ist. Dort scheint nicht angekommen zu sein, wie sehr sich die Welt- und Wirtschaftslage in den letzten drei Jahren verändert hat. Es wird mit alten und viel zu langsamen Antworten reagiert. Die Vertrauenswerte sind im Keller – und viele Bürger:innen zweifeln daran, dass die tatsächlichen Probleme erkannt werden.
Gefährliche Hinhaltetaktik
Statt notwendige Reformen anzugehen, werden Kompromisse geschlossen, die am Kern vorbeigehen. In Österreich etwa wird die Pensionsreform auf eine ferne "nächste Regierung" verschoben, in Deutschland scheut man die Debatte um Wehrpflicht oder Verteidigungsbereitschaft. Bürokratieabbau? Fehlanzeige. Wirtschaftliche Entlastung? Eher das Gegenteil – neue Steuern werden gefordert, als hätten wir ein Einnahmen- statt ein Ausgabenproblem.
Diese Hinhaltetaktik ist gefährlich. Denn die Bürger:innen sind klüger, als manche Politiker:innen glauben. Sie merken, wenn auf Zeit gespielt wird – und das treibt sie an die Ränder, zu extremen Positionen links wie rechts. So wird nicht nur mit der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zukunft gespielt, sondern auch mit einem unserer größten Güter: der Demokratie. Die Zeit läuft nicht nur, sie arbeitet gegen uns, und sich auszuruhen ist aktuell einfach keine Option.
"Die Zeit, die wir nicht nutzen, ist unwiederbringlich verloren"
Manche werden sagen: "Ralf, du siehst das viel zu schwarz, wo bleibt dein Optimismus?" Ich würde ihn gern mit wehenden Fahnen verbreiten, aber viele der genannten Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt: Renten- bzw. Pensionssysteme, hohe Lohnnebenkosten, mangelnde Verteidigungsbereitschaft, wachsende politische Extreme. Bisher hat man sich mit neuen Schulden, Kompromissen und der Arbeitskraft der Babyboomer über Wasser gehalten. Doch diese Zeiten sind vorbei. Uns helfen weder faule Kompromisse noch Verschiebungen in die Zukunft. Die Zeit, die wir nicht nutzen, ist unwiederbringlich verloren.
Ich wünsche uns allen, dass im persönlichen Leben die Zeit ein wenig langsamer vergeht und wir Momente bewusster genießen können. Für die Politik hingegen wünsche ich mir, dass sie endlich die Zeichen der Zeit erkennt. Denn in allen Fragen sollte besser gestern als heute gehandelt werden. Einmal mehr könnte hier auch ein Blick ins Unternehmertum helfen, denn auch in der Wirtschaft ist man schlecht beraten, die Dinge schleifen zu lassen und halbherzig zu reagieren. Denn damit erreicht man maximal Schadensbegrenzung, und das kann nicht der angestrebte Zustand sein.
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