Peter Lieber im Interview
"Der wichtigste Bodenschatz Österreichs ist nicht Öl oder Gas – sondern der Mensch"

Im LEADERSNET-Interview spricht ÖGV-Präsident Peter Lieber u.a. über die gesellschaftlich oft unterschätzte Rolle von Unternehmer:innen und die Notwendigkeit, Unternehmergeist frühzeitig zu fördern. Er kritisiert die schwierige Lage für KMU in Österreich, verursacht durch Bürokratie und ein veraltetes Bildungssystem. Zudem schildert er aktuelle Projekte des Gewerbevereins und die Bedeutung der Wilhelm Exner Medaille, die Wissenschaft und Unternehmertum verbindet.

LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Lieber, Sie sind jetzt schon fünf Jahre Präsident des Österreichischen Gewerbevereins (ÖGV) und seit über zehn Jahren aktives Mitglied. Was begeistert Sie daran?

Peter Lieber: Was mich am ÖGV seit über einem Jahrzehnt fasziniert – und insbesondere in meiner Funktion als Präsident – ist die tiefe Verankerung des unternehmerischen Gedankens in einer Zeit, in der dieser in Österreich nicht immer auf gesellschaftliche Anerkennung stößt. Der Gewerbeverein steht für ein Unternehmertum, das nicht auf kurzfristige Eigeninteressen zielt, sondern auf langfristige Verantwortung, Innovationskraft und Gestaltung des wirtschaftlichen Gemeinwesens.

In einem Umfeld, in dem unternehmerisches Engagement oft missverstanden oder gar skeptisch betrachtet wird, ist es mir ein zentrales Anliegen, ein neues Verständnis für die Rolle der Unternehmerin, des Unternehmers zu etablieren – jenseits von Klischees. Es geht darum, die Fähigkeit zu fördern, etwas zu schaffen, das über die eigene Person hinaus Bestand hat.

Was mich zudem motiviert, ist die außergewöhnliche historische Dimension des Hauses: Die Mitwirkung an der Weltausstellung 1873, Persönlichkeiten wie Wilhelm Exner oder der Bankier Epstein – all das zeugt von einer Tradition, die nicht museal ist, sondern inspirierend wirkt. Die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, von unternehmerischem Erbe und zeitgemäßem Unternehmertum, verleiht meiner Arbeit Sinn und Energie – Tag für Tag.

LEADERSNET: Wie beurteilen Sie aktuell die wirtschaftliche Lage in Österreich, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen?

Lieber: Österreich ist wirtschaftlich in einer extrem schwierigen Lage – insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Wir sind im dritten Rezessionsjahr, im europäischen Vergleich das absolute Schlusslicht. Ich glaube ehrlich gesagt: Wir schaffen es aus eigener Kraft nicht mehr. Vielleicht braucht es das EU-Defizitverfahren, weil es offenbar nur mit externem Druck gelingt, strukturelle Reformen anzugehen.

Was uns besonders belastet, ist die massive Überbürokratisierung. Jede Investition wird mehrfach verwaltet, jeder neue Regulierungsakt bringt zusätzliche Hürden – gerade für KMU. Ein Beispiel: die wirtschaftliche Eigentümermeldung. Gibt man einmal im Jahr nicht bekannt, dass einem das eigene Unternehmen gehört, drohen sofort Strafen in Höhe von 25.000 Euro. Das ist reine Systembürokratie – und hilft niemandem, außer Berater:innen.

Auch die Förderlandschaft ist ein Trauerspiel. Um 5.000 Euro Förderung zu bekommen, muss man einen sehr hohen Aufwand betreiben. Für viele kleinere Betriebe ist das faktisch unerreichbar. Dazu kommt: Der Zugang zu Kapital ist schwieriger, die Lohnkosten steigen, und wir haben keine funktionierende Wachstumsstrategie. Die Kollektivverträge wurden zuletzt stark erhöht – Österreich ist mittlerweile bei den Löhnen im EU-Spitzenfeld, aber ohne die entsprechende Produktivitätssteigerung.

Die Konsequenz: Viele Unternehmer:innen arbeiten rund um die Uhr – aber nicht am Unternehmen, sondern im Unternehmen. Sie kommen nicht einmal dazu, eine Nachfolgeregelung aufzustellen. Es wird daher in den kommenden Jahren zu zahlreichen Schließungen kommen – nicht unbedingt Insolvenzen, aber stille Rückzüge.

Der Mittelstand – das Rückgrat unserer Wirtschaft – wird politisch vernachlässigt. Und das, obwohl es die lokal agierenden KMU sind, die wie in jeder Krise der Industrie den Konjunktureinbruch entscheidend abfedern. Man hat uns sogar offen gesagt, wir seien kein wahlentscheidendes Milieu. Das ist fatal. Denn mit jeder Unternehmensschließung verlieren wir nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Innovationskraft, regionale Wertschöpfung und Zukunftsperspektive. Und das spüren vor allem die kleinen und mittleren Betriebe – jeden Tag.

LEADERSNET: Welche langfristigen Trends sehen Sie für das österreichische Gewerbe in den nächsten fünf bis zehn Jahren? Und welche politischen und wirtschaftlichen Veränderungen wären dringend nötig, um das Unternehmertum zu stärken?

Lieber: Österreichische Qualität heißt für mich: Wir sind gut im Adaptieren – nicht unbedingt im Erfinden. Aber wenn wir Dinge kombinieren, die es anderswo schon gibt, dann entsteht oft etwas Besonderes. Diese Fähigkeit, Kreativität in der Anwendung zuzulassen, ist eine unserer großen Stärken. Und sie wird uns helfen, in den nächsten fünf bis zehn Jahren als Gewerbe digitaler, serviceorientierter und globaler zu werden.

Ich glaube, dass Österreich großes Potenzial hat, sich global zu positionieren – nach dem Motto: "act local, think global“. Wir könnten sehr erfolgreich sein, wenn wir internationale Trends aufnehmen und für Europa adaptieren. Der heimische Markt ist oft zu klein, aber Europa als Ganzes wäre groß genug. Gleichzeitig sehe ich eine Riesenchance in Netzwerken: hochspezialisierte Einpersonenunternehmen, die kooperieren – wie ein Spinnennetz. Das ist tragfähiger als jede:r Einzelkämpfer:in. Nur müsste man diesen Mythos endlich loslassen.

Dazu braucht es aber politische Veränderungen wie Bürokratieabbau, echte Reformen und vor allem ein Bildungssystem, das Unternehmertum nicht als Störfaktor empfindet. Momentan erzieht unser Schulsystem brave Bürger:innen – nach dem preußischen Modell, das wir von Maria Theresia übernommen haben. Aber so funktionieren Menschen heute nicht mehr. Unternehmergeist müsste viel früher gefördert werden.

Und ein Wort zum Pensionssystem: Das ist in der derzeitigen Form nicht mehr tragfähig. Wir werden länger arbeiten müssen – das ist eine Realität, der sich niemand entziehen kann. Es braucht mutige Schnitte statt Herumeiern. Viele Politiker:innen tun so, als wären wir nicht schlau genug, um das zu verstehen. Aber die Menschen spüren längst, dass es so nicht weitergeht.

Der wichtigste Bodenschatz, den Österreich hat, ist nicht Öl oder Gas – es sind die Menschen. Unser Human Capital. Wenn wir dieses Kapital endlich ernst nehmen und Rahmenbedingungen schaffen, die Unternehmertum ermöglichen, dann hat das österreichische Gewerbe eine große Zukunft.

LEADERSNET: An welchen neuen Projekten arbeitet der ÖGV momentan?

Lieber: Wenn man den aktuellen Zeitgeist betrachtet, bewegt sich vieles im Kontext von Industrie 4.0 – und wir sprechen bereits von Industrie 5.0. Genau dort setzen wir derzeit an. Auch wenn "5.0" nicht ganz präzise ist, beschreibt es gut, worum es geht. Ich wurde 2020 gewählt – mitten in der Corona-Pandemie, kurz nach dem ersten Lockdown. Mein Ziel war von Anfang an, die Gewerbevertretung als starke, einheitliche Organisation zu positionieren – nicht als Flickenteppich einzelner Gruppen. Der ÖGV umfasst 17 Fachverbände mit insgesamt etwa 2.500 Mitgliedern.

Drei zentrale Themen stehen dabei im Fokus. Erstens der Club der Traditionsbetriebe, gegründet auf Initiative von Andreas Rath (Lobmeyr Glas). Viele dieser Unternehmen blicken auf über 200 Jahre Geschichte zurück – einige sogar auf mehr als 500. Österreich zählt über 3.000 Betriebe, die seit über 100 Jahren bestehen. Diese Resilienz und die Erfahrungen daraus wollen wir sichtbar machen. Der Club dient als modernes Lagerfeuer, an dem sich Generationen austauschen und voneinander lernen.

Zweitens fördern wir die Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft – ein Kernthema, verkörpert durch die Wilhelm Exner Medaille. Unternehmen, die in Forschung investieren, etwa in Pharma, Physik, Chemie oder Software, sollen dabei unterstützt werden, aus Erkenntnissen marktfähige Produkte zu machen.

Drittens stehen Jungunternehmer:innen im Fokus. Ich bevorzuge diesen Begriff gegenüber "Start-up", da er mehr Langfristigkeit und Überzeugung ausdrückt. Für diese Gruppe bieten wir ein Mentoring-Programm, das individuelles Coaching und Gruppenaustausch verbindet – mit Fokus auf gemeinsames Lernen und Inspiration. Zusätzlich fördern wir Kooperationen zwischen Unternehmen.

Unser Grundsatz lautet: Weg vom passiven "Ich bin Mitglied", hin zu einem aktiven "Ich will etwas beitragen". Wir schaffen Räume für ehrliche Begegnungen auf Augenhöhe, in denen Unternehmer:innen offen über Herausforderungen sprechen – Themen, die im privaten Umfeld oft wenig verstanden werden. Denn Unternehmer:innen stehen unter Druck – etwa durch doppelte Gehälter. Das österreichische System mit 13. und 14. Gehalt ist tief verankert und gibt vielen Sicherheit – es sollte, aber nur in offenen, ehrlichen, sehr anspruchsvollen Gesprächen reformiert werden.

Am Ende betrifft Wirtschaft alle – Produzent:innen, Konsument:innen und Politiker:innen. Wenn wir mehr Stolz auf unsere Unternehmen entwickeln und Vertrauen fördern, stärken wir auch die Produktivität und überwinden Krisen schneller. Das gemeinsame "Wir" und die Wertschöpfung in Österreich sind der Schlüssel für nachhaltigen Erfolg. Sparen allein bringt keinen Fortschritt – wir müssen einander stärken, in die Hände spucken, zupacken und gemeinsam an einer prosperierenden Zukunft arbeiten.

LEADERSNET: Der ÖGV vergibt über die "WEM" Stiftung jährlich eine Medaille an herausragende Wissenschaftler:innen. Was ist der Exner Spirit genau und warum ist das so wichtig?

Lieber: Die Wilhelm Exner Medaillenstiftung – kurz WEM – besteht seit über 100 Jahren. Interessant ist, dass sie offiziell erst vor drei Jahren als Stiftung gegründet wurde, obwohl man sie immer schon so genannt hat. Als wir sie 2020 neu ins Leben gerufen haben, durfte ich das persönlich unterschreiben.

Der "Exner-Spirit" dreht sich um die Verbindung von Wissenschaft und Unternehmertum. Forschung nur um der Forschung willen reicht uns nicht – so wichtig Grundlagenforschung auch ist. Wir zeichnen jene aus, die mit wissenschaftlichem Mut unternehmerische Wirkung erzielen. Wer jahrzehntelang an einer Idee festhält, trotz Rückschlägen und Widerständen – und dann, im entscheidenden Moment, den Durchbruch schafft, der ist Exner-würdig. Denken Sie an den Covid-Impfstoff: jahrzehntelange Forschung, die plötzlich zur Lösung einer globalen Krise wird.

Wir sind stolz auf 246 Medaillenträger:innen – darunter 25 spätere Nobelpreisträger:innen, etwa Anton Zeilinger, der 2005 die Exner-Medaille bekam, fast 20 Jahre vor dem Nobelpreis. Zeilinger ist ein großartiges Beispiel für wissenschaftliche Ausdauer und Eigenwilligkeit. Bemerkenswert ist, dass die Exner-Medaille international viel bekannter ist als in Österreich.

Wichtig ist uns, dass Innovation tatsächlich am Markt ankommt – nicht nur im Labor bleibt. Die Glühbirne wurde an vielen Orten gleichzeitig erfunden, aber Edison wurde berühmt, weil er sie auch vermarktet hat. Innovation braucht Mut, Kreativität – und ein Umfeld, das sie zulässt.

Nominiert werden kann man nur von anderen Exner-Medaillenträger:innen. Die Entscheidung trifft ein wissenschaftliches Gremium, meist werden ein bis zwei Auszeichnungen pro Jahr vergeben, manchmal auch drei. Es geht nicht um akademischen Ruhm, sondern um das Querdenken, das Brechen von Mustern und den Mut, Dinge anders zu machen.

Gerade Unternehmen müssen heute ständig am Puls der Zeit bleiben, sich neu erfinden. Fortschritt funktioniert häufig so, dass Innovation in der Krise, aus der Notwendigkeit heraus entsteht. In Österreich müssen wir aufpassen, dass unser Wohlstand uns nicht träge macht. Denn ohne Innovationskraft steigt der Druck im System – bis es irgendwann kracht.

Deshalb zeichnen wir Menschen aus, die Neues wagen. Menschen, die über den Tellerrand blicken, die Wissenschaft und Unternehmertum verbinden. Die Exner-Medaille macht sichtbar, dass wir Menschen, nicht Maschinen, die wirklich kreativen Leistungen erbringen. Und hier in Österreich zeichnen wir dafür die heimischen und die internationalen Vorreiter:innen aus. Das ist doch fantastisch!

LEADERSNET: Vielen Dank!

www.gewerbeverein.at

Lieber Peter,
Dein Dictum, dass es der Mensch ist, der Österreichs Schatz ist, besagt ja nichts anderes, als dass es unsere in der europäischen Tradition eingebettete Strategie sein muss, den Humanismus zur “Leitphilosophie” zu machen. Dazu, auch mit Bezug zu Technologieentwicklungen, ein Artikel meinerseits, den ich Dir gerne zustelle und von dem ich hier nur erst einmal aus dem Abstract zitiere:
Human-Centredness and Digital Humanism - an Attempt at a
Definitional Reference for the Digital Society
Günter Koch, Board Member of the World Capital Institute and Humboldt Cosmos Multiversity. Vienna, August 2024.
Summary
This article was written “on order” and attempts to define the terms human-centeredness and digital humanism in a digital-social context and at the same time to differentiate them from one another. In relation to computer science, the term human-centeredness has the narrower meaning that information technologies and their latest extensions to the overall scenario of artificial intelligence must be designed and
developed in such a way that human users can use them easily and for their own benefit. Digital humanism goes further here and claims to be today’s answer to the need for a conceptual framework for the information society, with reference to the history of the philosophy of humanism.

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