Interview mit Markus Hengstschläger
"Es sollte die Norm sein, immer wieder von der Norm abzuweichen"

Im LEADERSNET-Interview erklärt Markus Hengstschläger, Bestseller-Autor, Unternehmensgründer und Spitzenforscher, unter anderem, wie wir mit Unvorhersehbarem umgehen können, was es mit der Durchschnittsfalle auf sich hat, wie er Forschung und Unternehmertum unter einen Hut bringt und welche drei Entwicklungen in der Genetik er für revolutionär hält.


LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Hengstschläger, "Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist", sagte Louis Pasteur. Wie bereitet man sich heute auf das Unvorhersehbare vor – in einer Welt, die durch KI, Klimawandel, Kriege und Krisen geprägt ist?

Markus Hengstschläger: Bewährtes bewahren, aber auch laufend Neuland betreten. Nur ein hohes individuelles und gesellschaftliches Innovationspotenzial macht es möglich, auch mit dem Unvorhersehbaren umzugehen. Possibilist:innen sind Menschen, die auch unter schwierigeren Bedingungen ständig in Bewegung bleiben, um ihre Lösungsbegabung zu entfalten. Dadurch schafft man ideale Voraussetzungen für Serendipität und kann sogar Lösungen finden, die man gar nicht gesucht hat.

LEADERSNET: Das führt mich zu einer Beobachtung, die Sie immer wieder thematisieren: Wir setzen zu sehr auf den Durchschnitt und verschenken damit das Potenzial der "Nicht-Norm". Was macht aus Ihrer Sicht ein echtes Talent aus – und wie können wir es rechtzeitig erkennen?

Hengstschläger: Jeder Mensch ist talentiert, nur jede:r woanders. Ob zum Beispiel in der Wissenschaft, der Wirtschaft, im Handwerk oder der Kunst – jede:r kann etwas Besonderes, Kreatives, noch nie dagewesenes leisten. Wer seine Talente zu oft für etwas einsetzt, das es schon gibt, tappt in die Durchschnittsfalle. Es sollte die Norm sein, immer wieder von der Norm abzuweichen. Talente und Begabungen sind Potenziale, die entdeckt und durch harte Arbeit in eine besondere Leistung umgesetzt werden müssen. Der Mensch ist bei seinen Talenten nicht auf seine Gene reduzierbar – Gene sind nur Bleistift und Papier, die Geschichte schreibt jede:r selbst. Ich sage schon seit Jahren, dass es umso besser ist, je früher man Talente entdeckt und fördert. Das ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen unerlässlich. Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass wir uns professionell auf die Suche nach seinen Talenten machen. Und Talentförderung ist auch eine unverzichtbare Komponente am Weg Österreichs zu einem bildungsstarken Innovation-Leader-Land.

LEADERSNET: In der genetischen Diagnostik stehen wir an der Schwelle zur Präzisionsmedizin. Wo liegt für Sie die ethische Trennlinie zwischen Prävention und Perfektionierungswahn?

Hengstschläger: Dass Menschen individuell und verschieden sind, ist gut und weiß man schon lange. Das beruht auf dem Zusammenwirken der Gene, spezifischer Umwelteinflüsse und der Epigenetik, die die Verwendung der Gene regelt.
Der Begriff Präzisionsmedizin steht dafür, dieses Wissen in Zukunft zu nutzen, um durch die Interpretation von Genomdaten und anderen Daten durch künstliche Intelligenz – ein Thema, mit dem wir uns an unserem Institut aktuell sehr stark beschäftigen – hochpräzise und individuelle Therapien für Patient:innen zu entwickeln. Medikamente wirken bei jedem Menschen individuell anders. Die Konvergenz aus Genetik und KI ist ein enorm vielversprechendes Zukunftsgebiet der Medizin, das auch ethische Fragen aufwirft, die es zu diskutieren gilt. Mein Fach, die medizinische Genetik, beschäftigt sich mit der Entwicklung neuer Therapien für Erkrankungen des Menschen – Human Enhancement oder Transhumanismus, um die Grenzen des Menschen zu erweitern, lehne ich ab.

LEADERSNET: Sie leiten ein großes Universitätsinstitut, sind unternehmerisch tätig, forschen und veröffentlichen in den renommiertesten Wissenschaftsjournalen, unterrichten, schreiben Bestseller, moderieren, leiten Think-Tanks und haben vor vier Jahren mit Impact Lech auch ein eigenes ganz neues Kongressformat gegründet (hier geht es zu unserem Nachbericht 2025). Woher kommt Ihre Energie – und wie behalten Sie bei so vielen Rollen den roten Faden?

Hengstschläger: Der rote Faden ist die Wissenschaft. Und mein Fokus liegt dabei natürlich auf der Genetik. Was auch immer ich tue – forschen, unterrichten, Patient:innen betreuen, lesen, schreiben, Vorträge halten, Kongresse besuchen und organisieren, unternehmerisch arbeiten und Innovationsstrategien entwickeln – es ist immer von meinem Wunsch getrieben, einen kleinen Beitrag zur Erweiterung unseres Wissens zu leisten und die aktuellsten wissenschaftlichen Entwicklungen anzuwenden. Dabei treibt mich vor allem auch die Tatsache an, dass es für so viele genetische Erkrankungen noch keine Therapien gibt.

LEADERSNET: Sie sind nicht nur Forscher, sondern auch Gründer. Was hat Sie zum Unternehmertum bewegt – und wie beeinflusst es Ihre wissenschaftliche Arbeit? Gibt es ein Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Hengstschläger: Mein berufliches Zuhause ist seit vielen Jahren die Medizinische Universität Wien. Ich war vor Jahren beruflich an der Yale University in den USA tätig. In den letzten Jahren hat sich im Life-Science-Bereich der Abstand zwischen der MedUni Wien oder anderen österreichischen Forschungsinstitutionen und solchen Ivy-League-Universitäten verringert – in ganz bestimmten Fachbereichen gibt es ihn vielleicht gar nicht mehr. Immer vorausgesetzt, dass es mir meine Universität auch genehmigt hat, war mein unternehmerisches Tun immer von der Idee geprägt, bestimmte Innovationen im Bereich der Genetik voranzutreiben und umzusetzen. Das ermöglichte es mir zum Beispiel vor zwanzig Jahren, die erste Präimplantationsdiagnostik an den Polkörpern der Eizelle in Österreich durchzuführen, um Patient:innen im Zuge der künstlichen Befruchtung zusätzliche Optionen anbieten zu können.

LEADERSNET: In Anbetracht der rasanten Fortschritte in der Genetik: Welche technologischen Entwicklungen halten Sie für revolutionär, und wie könnten sie unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit verändern? Wann wird es möglich sein, alle monogenen Erkrankungen mit der CRISPR-Genschere zu heilen?

Hengstschläger: Es gibt tausende monogene Erkrankungen, und auch wenn ich somatische Gentherapie mittels CRISPR/Cas9 für eine der revolutionärsten und vielversprechendsten Technologien der Zukunft der Medizin halte, für alle wird die Genschere nicht die therapeutische Lösung sein können. Eine zweite Revolution wurde, wie bereits angesprochen, durch die Konvergenz von Genomdatenanalysen und KI eingeläutet. Das wird uns ein völlig neues Verständnis von Erkrankungen ermöglichen und den Weg für viele neue Therapiekonzepte ebnen. Als dritte revolutionäre Entwicklung würde ich die Stammzellforschung nennen wollen. Neben den von uns entdeckten Fruchtwasserstammzellen werden auch andere Stammzelltypen immer mehr zur Regeneration von geschädigtem Gewebe oder Organen eingesetzt werden. Und im Labor aus Stammzellen hergestellte Modelle von "Mini-Organen" – sogenannte Organoide – werden es ermöglichen, ganz neue Therapien zu entwickeln. Wir selbst arbeiten beispielsweise an solchen Modellen der Embryogenese, um in Zukunft das Risiko von Fehlgeburten zu minimieren.

LEADERSNET: Was ist Ihr größter Traum für die Zukunft der Genetik in den nächsten zehn bis 20 Jahren? Wie sehen Sie die Rolle der Wissenschaft in einer zunehmend komplexen und unvorhersehbaren Welt, und was sind die ersten Schritte, um diesen Traum zu verwirklichen?

Hengstschläger: Die Skepsis oder ablehnende Haltung in Teilen der Gesellschaft und bei populistischen Politiker:innen gegenüber Wissenschaft im Allgemeinen und Genetik im Speziellen ist weltweit erschreckend hoch. Auch in Österreich ist hier noch Luft nach oben. Das ist eine große Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft, den Fortschritt und die Demokratie. Mein großer Wunsch ist, dass wir niemals müde werden, alles daranzusetzen, die Menschen von der unverzichtbaren Bedeutung der Wissenschaft zu überzeugen – mehr noch: sie für Wissenschaft zu begeistern. Darum habe ich das Symposium Impact Lech erfunden und gegründet. Einmal im Jahr – jeweils zu einem bestimmten Thema – soll dabei die Wissenschaft auf Wirtschaft, Industrie, Start-ups, Sport, Kunst und Kultur etc. treffen, um in Gesprächen, die sonst so nie stattfinden, den Teilnehmer:innen die notwendigen Fakten zu bieten, damit sie sich wissenschaftsbasierte Meinungen bilden können.

www.impact-lech.at

www.pbg.meduniwien.ac.at

Zur Person

Markus Hengstschläger ist nicht nur einer der renommiertesten Wissenschaftler des Landes, sondern auch ein Wegbereiter zwischen Forschung, Ethik, Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft. Als Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der MedUni Wien verbindet er internationale Spitzenforschung mit der Praxis genetischer Diagnostik. Als erfolgreicher Unternehmensgründer leistet er seit Jahren Pionierarbeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Wirtschaft. Gleichzeitig prägt er mit seinem Engagement in Think-Tanks, Kommissionen und als Bestseller-Autor den öffentlichen Diskurs rund um Innovation, Talentförderung und Verantwortung im wissenschaftlichen Zeitalter. Wer ihn trifft, begegnet einem Impulsgeber mit Haltung – und einem klaren Anliegen: Wir müssen lernen, mit dem Unvorhersehbaren besser umzugehen. 

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Markus Hengstschläger ist nicht nur einer der renommiertesten Wissenschaftler des Landes, sondern auch ein Wegbereiter zwischen Forschung, Ethik, Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft. Als Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der MedUni Wien verbindet er internationale Spitzenforschung mit der Praxis genetischer Diagnostik. Als erfolgreicher Unternehmensgründer leistet er seit Jahren Pionierarbeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Wirtschaft. Gleichzeitig prägt er mit seinem Engagement in Think-Tanks, Kommissionen und als Bestseller-Autor den öffentlichen Diskurs rund um Innovation, Talentförderung und Verantwortung im wissenschaftlichen Zeitalter. Wer ihn trifft, begegnet einem Impulsgeber mit Haltung – und einem klaren Anliegen: Wir müssen lernen, mit dem Unvorhersehbaren besser umzugehen. 

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