"Wir alle betreten Neuland. Genau das macht das ganze Ding so spannend"

Rechtsanwalt Martin Schiefer erklärt im ausführlichen Interview die Finessen des Vergaberechts, die neue Art und Weise der Gestaltung von Ausschreibungen, was heimische Unternehmen international bewirken können, welche Rolle ein guter Einkäufer in Zeiten einer Pandemie spielt und warum ein Advokat auch "Heiratsvermittler" sein kann.

LEADERSNET: Sie sind als Anwalt auf das Gebiet Vergaberecht spezialisiert. Wie sind Sie dazu gekommen?

Schiefer: Durch reinen Zufall. Jeder junge Student überlegt, wie er auf dem hart umkämpften Anwaltsmarkt bestehen kann. 1995 ist gerade die Vergaberichtlinie in Österreich umgesetzt worden. Diese hatte damals 100 Paragrafen. Da habe ich mir gedacht: "100 Paragrafen - das lerne ich schnell und hebe mich von den anderen ab." Und ja, seither mache ich nichts anderes mehr als Vergaberecht.

LEADERSNET: Die Kanzlei ist stark gewachsen. Wie groß ist das Team aktuell?

Schiefer: Wir sind rund 35 Kollegen in ganz Österreich und sind österreichweit mit fünf Standorten direkt am Mandanten. Unser Leitsatz lautet "regional zu betreuen und Vergaberecht neu denken".

LEADERSNET: Erfüllt es Sie mit Freude, Rechtsanwalt zu sein?

Schiefer: Rechtsanwalt zu sein ist das Allercoolste. Ich möchte allen, die das lesen, vor allem den jungen Juristen, Interesse an diesem Job vermitteln. Es ist wirklich spannend, hinter die Kulissen, hinter die Entscheidungsstrukturen zu blicken. Kurz gesagt: Das Vergaberechet ist ein sehr, sehr tolles Rechtsgebiet.

LEADERSNET: Sie haben schon öfters erwähnt, dass Vergaberecht der perfekte Innovationstreiber ist. Was kann sich ein Laie unter dem Vergaberecht vorstellen?

Schiefer: Vergaberecht ist Einkaufsrecht. Das heißt, wir kaufen für die öffentliche Hand vom Flugzeug über Kopierpapier bis hin zu Laptops für Schulen und PCR Tests alles ein. Gerade jetzt, wo die Gelder knapp werden und man die Wirtschaft wieder ins Comeback bringen muss, muss das Geld vernünftig und vor allem nachhaltig und somit innovativ investiert werden.

LEADERSNET: Lassen sich Innovationen "einfach" mit den nötigen Mitteln umsetzen?

Schiefer: Diese Fragestellung wird dieser Tage sehr viel diskutiert. Dreieinhalb Milliarden kommen für Österreich aus dem Topf der Europäischen Union und sind eng damit verknüpft, innovativ zu sein. Das sollte die öffentliche Hand jetzt nutzen, um auch ihre Ausschreibungen so zu gestalten, dass Unternehmen, die gute Ideen haben und in Österreich Wertschöpfung produzieren, mit ihren Ideen auch in ganz Europa erfolgreich sein können.

LEADERSNET: Wie hat das Ganze mit Fairplay zu tun?

Schiefer: Beide Seiten sollen ganz klar zueinander finden. Aber die Ausschreibungen, so wie sie im Moment klassisch gestaltet sind, verhindern das oftmals. Wir wollen nicht "more of the same", sondern wir wollen etwas Innovatives haben. Und deswegen muss die öffentliche Hand die Ausschreibungen so konzipieren, dass Auftraggeber mit Startups, beziehungsweise innovative Unternehmen mit guten Ideen ohne großen bürokratischen Aufwand zusammenfinden.

LEADERSNET: Wer soll kommen? Das Startup oder der, der ausschreibt?

Schiefer: Naja, das ist immer so ein Thema. Wie kommt man zu einer Beziehung? Lässt man sich erobern oder erobert man? Mein Praxistipp: Es sollten sich alle in beiden Elementen wiederfinden, erobern und gleichzeitig erobern lassen.

LEADERSNET: Welche Rolle spielt dabei der Rechtsanwalt?

Schiefer: Den Heiratsvermittler, würde ich sagen. Wir sind sozusagen das Parship der Innovation. Wir versuchen den Auftraggeber zu ermutigen, von seinen traditionellen Vorgehensweisen abzuweichen und neue Wege zu beschreiten, gleichzeitig müssen wir dem jungen Startup aufzeigen, dass auch öffentliche Auftraggeber cool sein können.

LEADERSNET: Wie mutig müssen beide Seiten dabei sein? Oder hat man auf jeden Fall mehr, als man vorher gehabt hat?

Schiefer: Man hat auf jeden Fall mehr, auch wenn man scheitert. Man bekommt nämlich mehr Erfahrung und hat sich was getraut. Das sind zwei große Themen in Hinblick auf Innovationen. Eigentlich sollte dieses Produkt, das zu entwickeln ist, schon fertig sein. Andererseits wird bei den Förderstellen oft gesagt "für Förderung ist es eigentlich schon zu weit". Und genau diese Diskrepanz "wann ist es innovativ? Was ist innovativ?" lösen wir auf.

LEADERSNET: Wer sollte jetzt konkret zu Ihnen kommen?

Schiefer: Jeder öffentliche Auftraggeber, der Interesse daran hat, den Euro im Land zu halten, seine Unternehmen bei der Entwicklung von Wertschöpfung zu unterstützen und das Land Österreich als Exportkaiser, weiterhin zu forcieren.

LEADERSNET: Sie sind also praktisch jemand, der Auftraggeber und Auftragnehmer zusammenbringt und dazu anregt, neue Wege zu beschreiten. Wie kann das aussehen?

Schiefer: Es gibt nichts, was zu klein und was zu groß ist. Innovationen können ganz klein beginnen und dann wirklich wachsen. Wer hätte sich gedacht, dass ein iPhone und ein iPad die Welt revolutionieren? Das sind, wenn man so will, relativ einfache aber geniale Erfindungen. Und genau das sollte es sein.

LEADERSNET: Haben eigentlich Vergaberecht und Nachhaltigkeit etwas miteinander zu tun?

Schiefer: Ja. Vergaberecht und Nachhaltigkeit sind eng miteinander verwoben. Jeder Euro, der in Form von Steuergeldern jetzt ausgegeben werden soll, soll ja nachhaltig investiert werden. Wir als Kanzlei haben uns einmal die Frage gestellt: nachhaltig was heißt das eigentlich? Nachhaltig ist alles oder nichts. Wir versuchen Nachhaltigkeit so zu interpretieren, dass der investierte Euro auch doppelt und dreifach so viel wert wird.

LEADERSNET: Aber ist Nachhaltigkeit nicht doch nur bloß eine Phrase? Jeder zieht Sneakers an und glaubt, er ist jetzt nachhaltig oder grün. Nachhaltigkeit hat ja schlussendlich etwas mit Finanzierbarkeit zu tun, oder nicht?

Schiefer: Es geht darum, diese Nachhaltigkeit so zu übersetzen, dass sie auch finanzierbar bleibt und finanzierbar wird. Und wir beschäftigen uns nicht so sehr mit Sonntagsreden und politischen Ankündigungen, sondern wir orientieren uns bei Immobilien-, Liefer- und Dienstleistungs-Aufträgen an der EU-Taxonomie, wie auch am Finanzmarkt und am Versicherungsmarkt. Die Experten dort haben schon ganz klar ermittelt, was man machen muss, damit ein Gebäude in 30 Jahren noch nachhaltig ist, nämlich auch tatsächlich werthaltig ist. Und man wird nachhaltig mit werthaltig gleichsetzen müssen.

LEADERSNET: Welche Rolle spielt Mut dabei?

Schiefer: In der heutigen Zeit geht es nicht darum, Altes fortzuschreiben, sondern einfach Neues in die Unterlagen zu bringen. Und dazu muss man mutig sein. Ja, man betritt hier Neuland, aber das macht ja das ganze Ding so spannend.


LEADERSNET-CEO Paul Leitenmüller und Rechtsanwalt Martin Schiefer © LEADERSNET

LEADERSNET: Haben Sie auch innovative Ansätze zum Thema Regionalität?

Schiefer: Wir interpretieren nachhaltig eigentlich als regional. In der Kanzlei verfolgen wir einen regionalen Ansatz. Nachhaltigkeit passiert jeden Tag auf der kommunalen Ebene. Der viel gescholtene Föderalismus hat nicht nur Nachteile, wie wir es jetzt beim Impfen sehen, sondern auch große Vorteile, wenn man direkt vor Ort ist und dort entscheiden kann. Man kann sehr wohl die regionalen Aspekte in den Ausschreibungen berücksichtigen. Man muss es nur tun. Und dazu gehört wie eben erwähnt auch Mut.

LEADERSNET: Kann man den USP "Regionalität und Nachhaltigkeit" als Vorreiter auch exportieren?

Schiefer: Genau das ist ja das Ziel mit den Euros, die jetzt von der öffentlichen Hand ausgegeben werden. Es sollte etwas Nachhaltiges im Sinne von wirtschaftlich nachhaltig geschaffen werden. Und die Ideen, die jetzt im Moment kursieren, gerade im Bereich Photovoltaik, gerade im Bereich Umwelttechnik, das werden Exportschlager. Wir sehen immer wieder, dass Unternehmen in Österreich dasselbe Problem haben und sagen „Bei öffentlichen Ausschreibungen können wir mit unserem noch nicht gewinnen, weil die Unterlagen nicht passen. Und wenn wir im Ausland antreten, werden wir immer wieder gefragt warum denn die eigene Regierung die Produkte nicht kauft". Und dieses Thema könnte man locker auflösen, indem man sagt, die Ausschreibung wäre so gestaltet, dass österreichische Unternehmen, die kreativ sind, innovativ sind, eine Chance haben und gemeinsam mit der öffentlichen Hand auf den Weltmarkt gehen und dort die Referenzen verkaufen

LEADERSNET: Wie stellt sich die besondere Lage in der Pandemie dar?

Schiefer: Als die Pandemie begonnen hat, war das klar eine Situation die alle überfordert hat. Und es hat auch jeder verstanden, dass man hier schnell Schutzkleidung, Masken, usw. beschaffen musste. Jetzt gibt es in vielen Bereichen nach wie vor die gleichen Handlungsebenen, aber eben auch Handlungsalternativen. Wir sind der Meinung, das geht besser.

LEADERSNET: Man hätte also lernen können? Gewisse Richtlinien müssen aber immer eingehalten werden, gibt es hier Spielraum für Innovation?

Schiefer: Die Lernkurve ist hier zu flach und aus der Aufstellung der Beschaffung, so wie sie in Friedenszeiten war, müssen wir dringend etwas lernen: Man sollte den Einkauf dringend als ähnliche strategische Schaltzentrale sehen und ihn zu den Entscheidern heben. Einer der großen Kritikpunkte, die wir in der Pandemiebekämpfung sehen, war, dass die Einkäufer nicht auf einer Ebene waren.

LEADERSNET: Wie könnte es besser funktionieren?

Schiefer: Für einen guten Einkäufer ist einmal Voraussetzung, dass er den Markt und seine Anbieter kennt. Und er muss auch wissen, wann welches Produkt in welcher Qualität verfügbar ist. In Zeiten der Pandemie sind diese "gemütlichen Entscheidungsprozesse" natürlich völlig ausgehebelt und ich muss schauen, dass ich möglichst rasch in einem überhitzten Weltmarkt was bekomme. Da zeigt sich, dass vernünftige und langjährige Vertragsbedingungen halt am besten halten. Ein Tipp: In Friedenszeiten auf Vertragsbedingungen setzen, die dann auch in Krisenzeiten halten. (red)

Das ganze Gespräch sehen Sie in diesem Videobeitrag

www.schiefer.at

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