Mit einem deutlichen Appell an die Relevanz der beruflichen Ausbildung eröffnete Kathrin Machherndl, Gastgeberin & Mitglied der Geschäftsführung von Business Circle, gemeinsam mit Moderatorin Karin Bauer (Chefin vom Dienst Karriere-Ressort Der Standard) das Lehrlingsforum 2025. Der Zeitpunkt war bemerkenswert: Erst wenige Tage zuvor hatten Arbeiter- und Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und z.l.ö. öffentlich eine stärkere Aufwertung der Lehre gefordert (LEADERSNET berichtete).
Machherndl betonte gegenüber LEADERSNET.tv, Österreich habe zwar eine lange Tradition in der Lehrlingsausbildung, dennoch steige der makroökonomische Druck spürbar. "Wir merken den Fachkräftemangel, wir sehen Betriebe, die händeringend Nachwuchs suchen und gleichzeitig mit veränderten Generationenbildern und Erwartungshaltungen umgehen müssen", so die Gastgeberin. Ziel des Forums sei es, eine Brücke zwischen strategischem Diskurs und betrieblicher Umsetzung zu schlagen.
Talent, Bildung und Lösungsbegabung
Einer von mehreren Höhepunkten des Forums war die Keynote von Markus Hengstschläger, Leiter des Instituts für Medizinische Genetik an der TU-Wien. Wer schon einmal einen Vortrag des Top-Genetikers und Bestseller-Autors gehört hat, weiß, dass es da trotz der notwendigen Sachlichkeit stets pointiert und unterhaltsam zur Sache geht. Und so zog Hengstschläger auch das Publikum des Lehrlingsforums schnell in seinen Bann. Hengstschläger beschrieb Talententwicklung als Kombination aus biologischer Prägung und Lernumfeld. Begabungen seien Potenziale, die nur dann zur Wirkung kämen, wenn man sie erkenne und konsequent fördere. Maschinen würden vieles können, aber nicht die Fähigkeit des Menschen ersetzen, empathisch, kreativ und kontextsensibel zu handeln. Diese "Lösungsbegabung" sei trainierbar und basiere auf ungerichteten Kompetenzen wie kritischem Denken, Mut, Kreativität und Resilienz. Lehrlinge brächten unvoreingenommene Perspektiven in die Unternehmen und seien damit eine zentrale Ressource in Zeiten tiefgreifender Transformation. Hengstschläger betonte im LEADERSNET.tv-Interview, dass Talententwicklung eng mit Förderung verbunden sei: "Begabungen haben eine biologische Basis, aber sie entfalten sich nur, wenn wir sie entdecken und konsequent daran arbeiten."
Karin Bauer, die das Lehrlingsforum seit zwölf Jahren begleitet, sieht in der Entwicklung der Lehre zugleich Licht und Schatten. Während sie die Professionalität vieler Betriebe hervorhob, sprach sie von einem "massiven Rückgang" an Lehrstellen und ausbildenden Unternehmen. Die gesellschaftliche Trennung zwischen akademischer und handwerklicher Laufbahn bestehe weiterhin – obwohl "KI keine Fliesen verlegen wird".
Arbeitsmarktrealität und Standortfrage
In der analytischen Mitte des Forums zeigte IHS-Direktor Holger Bonin auf, dass der Fachkräftemangel längst zum strukturellen Risiko für den Wirtschaftsstandort geworden ist. Sinkendes Arbeitskräfteangebot, Qualifikationsmismatches und demografische Alterung dämpften das Wachstumspotenzial, während die Anforderungen in nahezu allen Berufen steigen. Ohne moderne Ausbildung, so die Warnung des Ökonomen, gerieten zentrale Transformationsvorhaben ins Stocken – darunter Dekarbonisierung und Digitalisierung. Beruflich qualifizierte Fachkräfte würden zum entscheidenden Engpassfaktor.
Podium: Das System Lehre neu aufstellen
In einer gemeinsamen Diskussion von Schule, Wirtschaft, Politik und der österreichischen Bundesschulsprecherin wurde klar, dass die Lehre kein "Plan B", sondern ein gleichwertiger Bildungsweg ist. "Lehre mit Matura" eröffne zusätzliche Laufbahnen, werde jedoch noch zu wenig genutzt. Familien müssten verstehen, dass Karrierewege vielfältig seien und nicht zwingend über die Universität führten. Lehrlinge seien zudem glaubwürdige Botschafter:innen im Recruiting und bräuchten eine stärkere politische Stimme, weil sie die tatsächlichen Bedingungen der Ausbildung am besten kennen.
Orientierung, Zusammenarbeit und Zukunftskompetenzen
Schulleiter Christian Klar hob die Bedeutung realistischer Orientierung hervor: Leistungsanforderungen, Konsequenzen und individuelle Förderung müssten zusammengedacht werden. Digitale Systeme könnten handwerkliche Kompetenz nicht ersetzen – ein Argument, das auch Bonins Standortperspektive unterstützt. Wie praxisnahe Ausbildung aussehen kann, zeigte Werner Kartner (F/LIST) anhand von Buddy-Systemen, anerkennender Unternehmenskultur und pädagogisch geschulten Ausbilder:innen. Gute Lehrlingsarbeit erfordere Begleitung, Motivation und Bindung – und manchmal entstünden daraus spontan neue Kooperationsprojekte, wie es im Forum demonstriert wurde. Bundesschulsprecherin Hannah Scheidl unterstrich die Notwendigkeit enger Rückkopplung zwischen Schulen und Betrieben: Welche Kompetenzen brauche die Wirtschaft? Welche davon könne Schule liefern? Praxisbezüge motivierten Jugendliche, während Bürokratie, Föderalismus und differierende Zuständigkeiten flexible Kooperation oft erschwerten. KI werde vieles verändern, doch Plausibilitätsprüfung bleibe ein menschlicher Kernskill.
Digitale Lernwelten
YouTuber Mirko Drotschmann ("MrWissen2go") verdeutlichte, wie stark digitale Formate das Lernen junger Menschen prägen. Jugendliche wählten Inhalte, Stil und Vermittlungspersonen eigenständig. Hinter guten Lernvideos stehe eine intensive Produktionsarbeit aus Recherche, Struktur und Feedback. Sein Appell lautete, digitale Inhalte aktiv im Unterricht und in der betrieblichen Ausbildung zu nutzen und gemeinsam zu analysieren: Wer etwas erklären müsse, verstehe es am Ende selbst am besten.
Ausbildung, die wirkt
Im Abschlussgespräch beschrieben Herwig Fritzl und Helmut Haslinger, wie stark Ausbildung Persönlichkeiten prägen könne. Geld sei wichtig, aber vor allem Hygienefaktor. Lehrlinge blühten auf, wenn sie ernst genommen würden: Sie seien Persönlichkeiten, keine Werkstücke. Leistung verteile sich in Organisationen ähnlich – "im Vorstand wie an der Werkbank". Positive Kommunikation stärke das System und mache die Lehre zu einem chancenreichen Entwicklungsfeld. Entscheidend sei, dass jedes Teammitglied Haltung, Tools und Kompetenz mitbringe, um junge Menschen professionell zu begleiten.
Zukunftsaufgaben
Aus den Beiträgen und Erkenntnissen des Forums lassen sich den Expert:innen zufolge zentrale Handlungsfelder ableiten: eine praxisnähere Ausbildung mit stärkerem Technologiebezug, modernisierte Lehrpläne, mehr Daten- und Digitalkompetenz, Investitionen in Lehrpersonal sowie zeitgemäße Infrastruktur in Werkstätten und Labors. Im Schlusswort betonte Machherndl, dass es weniger um "Best Practices" gehe als um "Good Practices" – also um Lösungen, die in den jeweiligen Betrieben tatsächlich funktionieren. Das Lehrlingsforum zeige, wie wirkungsvoll kollektive Intelligenz im Austausch vielfältiger Perspektiven sein könne.
Video-Interviews
LEADERSNET.tv holte neben Kathrin Machherndl, Markus Hengstschläger und Karin Bauer noch Werner Kartner, CCO bei F/List, Nico Lind, Gründer & Geschäftsführer von Possibly.at, Susanne Vietz, Trainerin & psychologischer Coach, Benjamin Meisenbichler, Apprenticeship Coordination bei OMV, Andreas Kellner, Lehrlingsbeauftragter der Erste Bank, Hanna Scheidl, Bundesschulsprecherin der Bundesschülervertretung im BM für Bildung, Anna Gawin, Gründerin & CEO von Apprentigo.io, Bernd Kögler, Technischer Ausbildungsleiter bei Pankl Racing Systems, Nur Kübra Dilalan, Personalentwicklerin der Faigle Group, Joachim Ortner, Geschäftsführender Gesellschafter von Vortura Solutions, Christian Klar, Buchautor & Schulleiter der Mittelschule Jedlesee, Franz Simanov, zuständig für die technische Weiterqualifikation bei den Wiener Netzen, Andreas Hüttner, betriebswirtschaftlicher Leiter bei Leithäusl, Ingrid Böhm, Leitung Vertrieb der Bildungsplattform wise up der WKÖ, sowie Lukas Nohynek, Customer Success Manager der Bildungsplattform wise up der WKÖ, vor die Kamera.
Fotos vom Lehrlingsforum finden Sie in der Galerie.
www.businesscircle.at
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