Gastkommentar von Peter Sverak
Die Kunst des Verlierens

| Redaktion 
| 18.11.2025

Ein Gastkommentar von Peter Sverak, Strategie- und Kommunikationsberater und ehemaliger Landesgeschäftsführer der Wiener Volkspartei.

Manche Jahre nehmen einem die Illusion der Kontrolle. 2025 ist so eines. Es ist ein Jahr, das nüchtern zeigt, dass Stabilität kein Zustand ist, sondern eine Haltung. Dass Resilienz erst dort beginnt, wo etwas verloren geht.

Die Pandemie liegt hinter uns, ihre Nachwirkungen aber nicht. Die Welt hat sich nicht beruhigt, sie hat sich verschoben: ein Krieg an Europas Grenze, ein zweiter Konflikt, der Handelsrouten blockiert, eine Wirtschaft, die stagniert, während die Preise wieder steigen. Wir erleben keine Krise mit Anfang und Ende, sondern eine Dauerprüfung – wirtschaftlich, gesellschaftlich, mental. Und genau in solchen Zeiten entscheidet sich, ob wir fähig sind, zu verlieren, ohne uns aufzugeben.

Verlieren ist in unserer Kultur ein stilles Tabu. Man darf alles: transformieren, optimieren, skalieren – nur nicht verlieren. Erfolg ist öffentlich, Scheitern privat. Dabei liegt in der Niederlage eine Klarheit, die kein Sieg je bietet. Erfolg überdeckt vieles: Er kaschiert Strukturen, glättet Eitelkeiten, lässt uns glauben, Methode und Momentum wären dasselbe. Erst wenn etwas bricht, sieht man, was trägt – und was nur glänzte.

Wer in Wahlkämpfen Verantwortung getragen hat, kennt diesen Moment: Wochenlang alles auf einen Tag hin fokussiert, jede Entscheidung mit Bedeutung aufgeladen – und am Ende steht ein Ergebnis, das anders ausfällt als geplant. So ein Tag verändert die Wahrnehmung. Er zwingt zur Ehrlichkeit.

Das Gleiche gilt in Unternehmen, in Projekten, in persönlichen Übergängen. Verlieren zwingt dazu, zuzuhören, statt zu senden. Zu analysieren, statt zu erklären. Zu handeln, ohne Bühne. Das ist die eigentliche Kunst des Verlierens: aus dem Verstummen eine neue Sprache machen.

Wir leben in einer Zeit, in der viele Systeme gleichzeitig schwächeln: Politik, Wirtschaft, Bildung, Medien – und trotzdem halten wir an der Illusion fest, dass die Lösung irgendwo "oben“ entstehen müsse. Doch die Wahrheit ist schlicht: Erneuerung beginnt dort, wo einzelne wieder Verantwortung übernehmen.

Resilienz ist kein Modewort. Sie ist eine Verpflichtung. Sie verlangt, dass wir nicht in den bequemen Rückzug gehen – nicht in der Wirtschaft, nicht im Arbeitsleben, nicht in der Mentalität einer Generation, die sich zu oft zwischen Sinnsuche und Schonhaltung eingerichtet hat. Wer glaubt, Wohlstand ließe sich ohne Anstrengung erhalten, verwechselt Stabilität mit Stillstand. Leistung ist kein altmodisches Konzept. Sie ist das, was Gesellschaften trägt, wenn Systeme an ihre Grenzen kommen. Niederlagen sind oft gerechter als Siege. Sie entlarven. Sie befreien.

Nach jedem Rückschlag bleibt ein schmaler, klarer Raum: der Raum der Entscheidung. Man kann sich dort klein machen – oder man kann sich neu ordnen. Viele Wendepunkte entstehen in genau solchen Momenten: nach einem Ergebnis, mit dem man nicht gerechnet hat, nach einem Projekt, das nicht trägt, nach einem Kapitel, das endet, obwohl man glaubte, es müsse weitergehen.

Man verliert nie nur etwas – man gewinnt immer etwas zurück: Schärfe. Haltung. Bewusstsein. Wir brauchen wieder mehr Mut zum Verlieren. Nicht, um Niederlagen zu feiern, sondern um sie auszuhalten. Denn wer gelernt hat, zu verlieren, verliert die Angst davor. Und wer die Angst verliert, gewinnt Freiheit. Doch diese Freiheit bleibt hohl, wenn sie nur individuell gedacht wird.

Gesellschaftliche Stärke entsteht nicht im Kollektiv der Erwartungen, sondern im Zusammenspiel der Verantwortlichen. Jede:r trägt einen Teil davon – im Unternehmen, in der Familie, im öffentlichen Raum, in den Entscheidungen des Alltags. Das Kollektiv wird nur stark, wenn der:die Einzelne bereit ist, stark zu sein – nicht durch Macht, sondern durch Haltung.

Die Kunst des Verlierens ist damit keine private Tugend, sondern eine gesellschaftliche Ressource. Sie ist die Fähigkeit, in schwierigen Jahren das Eigene zu tun – und damit das Ganze zu tragen. Sie ist die leise, unspektakuläre Form von Führung, die wir heute dringender brauchen als jede Parole über Wandel.

Vielleicht ist das die wahre Stärke: Nicht, dass wir immer siegen – sondern, dass wir immer wieder aufstehen, und dabei jedes Mal ein Stück klarer werden.

www.sverak-advisory.eu


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Petar Sverak

Peter Sverak ist Strategie- und Kommunikationsberater in Wien. Nach mehreren Jahren in leitenden Funktionen in Politik, Kommunikation und Management hat er sich im Herbst 2025 selbstständig gemacht. Zudem ist er Obmann der Wirtschaftskammer Wien–Hietzing.

Petar Sverak

Peter Sverak ist Strategie- und Kommunikationsberater in Wien. Nach mehreren Jahren in leitenden Funktionen in Politik, Kommunikation und Management hat er sich im Herbst 2025 selbstständig gemacht. Zudem ist er Obmann der Wirtschaftskammer Wien–Hietzing.

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