Als der deutsche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vor etwa einem Jahr erklärte, Deutschland und Europa müssten wieder "kriegstüchtig" werden, schlug die Welle der Empörung hoch. Die öffentliche Debatte entzündete sich sofort an diesem einen Wort. Schnell folgte ein Tauziehen um Begriffe: Kriegstüchtigkeit, nein – lieber verteidigungsfähig, wehrhaft, bereit zur Abschreckung. Doch diese Diskussion über Worte ist letztlich nichts als rhetorisches Feigenblatt. Denn wer ehrlich ist, weiß: Gemeint ist inhaltlich dasselbe – nur scheuen sich viele in Politik und Medien, es klar auszusprechen. Pistorius brachte es hingegen treffend auf den Punkt: "Wir müssen kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen."
Der wirksamste Pazifismus ist Abschreckung
Was viele noch nicht begriffen haben, ist die Dringlichkeit. Es gibt nach wie vor Stimmen, die behaupten, der Westen habe den Ukraine-Krieg provoziert, und man müsse wieder abrüsten, nicht aufrüsten. Das ist nicht nur weltfremd, sondern gefährlich. Ein Blick auf die Realität genügt: Russland gibt mittlerweile rund 40 Prozent seines gesamten Staatshaushalts für Rüstung aus. Es produziert jährlich mehr Panzer, als die gesamte NATO zusammen besitzt. Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die Stärke des russischen Heeres auf etwa 1,5 Millionen Soldaten verdoppelt. Gleichzeitig äußern sich führende russische Politiker wie Wladimir Putin oder Dmitri Medwedew immer offener zu ihren territorialen Ambitionen. Wer hier keine Bedrohung erkennt, verdrängt die Realität. Die Lehre aus der Vergangenheit – insbesondere aus der Zeit des Kalten Krieges – ist eindeutig: Der wirksamste Pazifismus ist Abschreckung. Die friedlichste Phase Europas war nicht trotz, sondern wegen der militärischen Stärke des Westens, die Zeit bis nach 1990.
Einigkeit ist die Grundvoraussetzung
Hat man diesen Zusammenhang einmal verstanden, stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch wie wir kriegstüchtig werden können. Einigkeit ist dafür die Grundvoraussetzung. Europa, insbesondere die EU-Staaten und NATO-Mitglieder, müssen gemeinsam und geschlossen handeln – auch dann, wenn die USA sich künftig zurückziehen sollten. Nationale Einzelinteressen müssen zurückstehen, wenn es darum geht, militärische Ressourcen gemeinsam zu organisieren und Streitkräfte personell und materiell auszustatten. Ein zentraler Bestandteil dieser Einigkeit muss die bedingungslose Unterstützung der Ukraine bleiben, auch um zu zeigen, dass wir nicht bereit sind, Aggression hinzunehmen.
Verpflichtende Dienstzeit ist unumgänglich
Natürlich bedeutet Kriegstüchtigkeit auch eine materielle Aufrüstung – oder präziser: eine gezielte, intelligente Nachrüstung. Es wird notwendig sein, erhebliche Teile des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren – mindestens fünf Prozent. Dabei darf man sich nicht in langwierigen, paneuropäischen Entwicklungsprojekten verlieren, sondern muss pragmatisch und schnell auf bereits verfügbare Technologie zurückgreifen. Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg zeigen deutlich, welche Waffensysteme heute entscheidend sind: neben klassischer Artillerie vor allem Drohnen, Luftabwehr und robuste Logistik. Doch der entscheidendste Faktor bleibt der Mensch. Die Bundeswehr – und viele andere Armeen Europas – haben heute vor allem eines nicht: Personal. Die Freiwilligenlösung, wie sie derzeit etwa in Deutschland angedacht ist, wird nicht reichen. So schmerzhaft es klingt: Eine verpflichtende Dienstzeit – ob militärisch oder zivil – von mindestens einem Jahr wird unumgänglich sein. Ich verstehe jeden Vater und jede Mutter, die bei diesem Gedanken erschrickt. Aber wer die Lehren aus dem Ukraine-Krieg ernst nimmt, erkennt, dass dieser Schritt notwendig ist.
Gesellschaft muss sich geistig wappnen
Zur Kriegstüchtigkeit gehört mehr als militärische Stärke. Auch der Zivilschutz muss modernisiert und auf mögliche kriegerische Szenarien vorbereitet werden. Das betrifft Katastrophenschutz und Bunkeranlagen ebenso wie den Schutz kritischer Infrastruktur. Vor allem aber muss sich auch unsere Gesellschaft geistig wappnen. Die Umfragen sind ernüchternd: In Österreich etwa wären nur etwas mehr als 20 Prozent der Menschen bereit, ihr Land im Ernstfall mit der Waffe zu verteidigen. Das ist alarmierend. Wir müssen dringend wieder besser vermitteln, wofür unsere Gesellschaft steht: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Diese Werte sind nicht selbstverständlich, und es ist nicht zu viel verlangt, wenn man von Bürgerinnen und Bürgern erwartet, dass sie bereit sind, im Notfall dafür einzustehen. Soldat zu sein ist kein notwendiges Übel – es ist ein ehrenvoller Dienst an der Gemeinschaft.
Eine besonders schwierige, aber notwendige Debatte betrifft den atomaren Schutz Europas. Es ist illusorisch, dauerhaft allein auf das nukleare Schutzschild der USA zu vertrauen. Wir müssen daher beginnen, offen zu diskutieren, ob und wie Europa selbst über atomare Abschreckung verfügen kann. Dies betrifft sowohl strategische Waffen als auch taktische Gefechtsfeldwaffen – auch wenn es ein heikles Thema bleibt.
Österreich ist auf Solidarität angewiesen
Für Österreich stellt sich in diesem Zusammenhang zusätzlich die Frage nach der Neutralität. Jahrzehntelang war sie identitätsstiftend – aber schützt sie tatsächlich? Die Geschichte zeigt das Gegenteil. Kein Land wurde im Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner Neutralität verschont. Auch die Ukraine war neutral – bis sie von Russland angegriffen wurde. Umso widersprüchlicher ist es, wenn laut Umfragen rund 70 Prozent der Österreicher:innen im Fall eines Angriffs Hilfe von außen erwarten, aber gleichzeitig nicht bereit wären, anderen angegriffenen Staaten zu helfen. Diese Haltung ist nicht tragfähig. Österreich ist auf Solidarität angewiesen – wirtschaftlich wie militärisch. Es kann es sich nicht leisten, zum Trittbrettfahrer zu werden und im Ernstfall isoliert dazustehen.
Unbequeme, aber notwendige Debatte
Natürlich ließen sich noch viele weitere Aspekte anführen, aber dies ist mal ein Anfang. Es gibt Stimmen, die meinen, wir hätten noch Zeit. Ich fürchte, wir haben bereits zu viel Zeit verloren. Die meisten militärischen Analysen gehen davon aus, dass Russland spätestens 2026 oder 2027 versuchen wird, mit kleineren Angriffen auf NATO-Mitgliedstaaten die Bündnistreue zu testen. Wenn wir bis dahin nicht geeint, vorbereitet und kriegstüchtig sind, wird Europa schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, einen Krieg nicht nur zu beobachten, sondern selbst zu erleben.
Lassen wir es nicht so weit kommen. Diese Debatte ist unbequem, aber sie ist notwendig. Und noch wichtiger: Sie muss in konkrete Taten münden. Wir sind es nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Kindern schuldig, die Freiheit Europas entschlossen zu verteidigen.
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