Geneigte Leserinnen und Leser, überkommt Sie nicht auch zunehmend das Gefühl, dass es – insbesondere in der Politik – an charismatischen Persönlichkeiten mangelt? Wo sind die Willy Brandts, Helmut Schmidts, Barack Obamas oder Franz Vranitzkys unserer Zeit? In den letzten Jahren habe ich nur selten ein vergleichbares Charisma aufblitzen sehen, vielleicht bei Karl-Theodor zu Guttenberg oder Sebastian Kurz.
Was ist Charisma?
Doch was genau ist Charisma eigentlich? Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde der Begriff fast ausschließlich im religiösen Kontext verwendet und bezeichnete eine besondere Begabung oder göttliche Gnade. Das Wort leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet "Geschenk". Heute verstehen wir Charisma vor allem als eine besondere persönliche Ausstrahlung, die Menschen emotional berührt, ihnen Orientierung gibt und Loyalität erzeugt. Charismatische Persönlichkeiten haben die Fähigkeit, Massen zu begeistern und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.
"Charisma-Code"
In letzter Zeit beschäftigen sich zahlreiche Psycholog:innen mit dem sogenannten "Charisma-Code" – also der Frage, was charismatische Menschen ausmacht, und sie meinen gar, diesen Code entschlüsselt zu haben. Erst kürzlich erschien dazu eine lesenswerte Abhandlung von Olaf Stampf im Spiegel. Doch was genau steckt hinter diesem Phänomen, und welche Eigenschaften braucht eine charismatische Führungspersönlichkeit?
Wichtigste Eigenschaften von charismatischen Personen
Die wichtigste Eigenschaft charismatischer Personen ist die Fähigkeit, eine emotionale Verbindung zu ihren Zuhörer:innen aufzubauen. Sie spüren, was die Menschen bewegt – ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen – und schaffen es, ein starkes Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Dieses Wir-Gefühl kann dann genutzt werden, um die Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Laut Stampf entfaltet Charisma seine größte Wirkung insbesondere in Zeiten großer Unzufriedenheit. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Probleme von der etablierten Politik nicht gelöst werden, sehnen sie sich nach einem:r "Erlöser:in". Einmal auf diese:n Heilsbringer:in eingeschworen, folgen sie dieser Person oft blind, selbst wenn es zahlreiche rationale Argumente gegen deren Ideen gibt. Uns allen fallen wohl einige Beispiele aus Europa und den USA ein, bei denen genau dieses Phänomen zu beobachten war, was am Ende jedoch oftmals Leid und Tyrannei über die Menschen gebracht hat.
Viele Psycholog:innen sind zudem der Meinung, dass charismatische Führungspersönlichkeiten oft aus einer Außenseiter-Rolle kommen. Sie kämpfen gegen eine Stigmatisierung durch die Gesellschaft, das politische Establishment oder andere "Feindbilder". Tatsächlich stamm(t)en viele charismatische Führer (in diesem Fall tatsächlich hauptsächlich männliche) aus gesellschaftlichen Randgruppen oder haben sich bewusst als solche inszeniert.
Ein weiteres gemeinsames Merkmal vieler charismatischer Persönlichkeiten ist ihre Fähigkeit, moderne Kommunikationstechniken für sich zu nutzen. Besonders in den letzten zwei Jahrzehnten konnten wir beobachten, wie politische Akteur:innen – insbesondere von populistischen Bewegungen – die sozialen Medien meisterhaft einsetzen, während etablierte Parteien noch auf traditionelle Mittel wie Flugblätter setzten. Diejenigen, die neue Technologien verstehen und gezielt nutzen, verschaffen sich dadurch einen entscheidenden Vorteil.
Authentisch und glaubwürdig
An den nun folgenden beiden Punkten scheitern viele Politiker:innen: Charismatische Führungspersönlichkeiten müssen authentisch und glaubwürdig wirken. Wer seine Meinung, Positionen, Werte dreht und wendet wie ein Fähnchen im Wind, oder sein Rückgrat an der Garderobe abgibt, sich widersprüchlich verhält oder Prinzipien dem Machterhalt opfert, verliert schnell an Strahlkraft. Eine Führungspersönlichkeit ohne klare Haltung wird von der Bevölkerung als wankelmütig und unzuverlässig wahrgenommen.
Mit Worten fesseln
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Kunst, sich auszudrücken. Wer charismatisch wirken will, muss Menschen mit Worten fesseln können. Die besten Beispiele hierfür sind etwa die Rede von John F. Kennedy mit seinem berühmten Satz "Ich bin ein Berliner", oder die mitreißenden Auftritte von Barack Obama und Karl-Theodor zu Guttenberg. Sie alle verstanden es, durch Sprache und Gestik eine emotionale Verbindung zu ihrem Publikum herzustellen.
Ob mit all diesen Faktoren nun tatsächlich der "Charisma-Code" geknackt wurde, bleibt fraglich. Vielleicht ist Charisma letztlich doch eine reine Frage der Persönlichkeit – ein gewisses Etwas, das sich nicht vollständig in Regeln fassen lässt. Egal, woher das Charisma nun kommt, entscheidend ist wohl am Ende nicht nur, ob jemand Charisma besitzt, sondern auch, wie er oder sie es nutzt. Denn die Geschichte zeigt eben, dass charismatische Menschen sowohl Segen als auch Fluch sein können.
Gesunde Skepsis
Charisma allein reicht aber nicht aus, um ewig erfolgreich zu sein. Wer in eine Machtposition gelangt und dann nicht liefert, was er oder sie zuvor versprochen hat, dessen schöner Schein verliert oft schneller an Glanz, als es der betreffenden Person lieb ist. In diesem Sinne bleibt festzuhalten: Ja, mir fehlen charismatische Führungspersönlichkeiten – doch viele, die diese Fähigkeit besitzen, treten leider für die falsche Sache ein. Und nicht selten verglimmt ihr Leuchten bei der ersten Konfrontation mit der Realität – und zwar schneller als ein Streichholz.
Meine geneigten Leser:innen kennen mich als besonnenen Menschen, der grundsätzlich das Gute in seinem Gegenüber vermutet, anstatt über die Maßen misstrauisch zu sein. Trotzdem sollten wir, wenn jemand heller strahlt als üblich, uns nicht vertrauensselig einlullen lassen, sondern mit gesunder Skepsis prüfen, ob die Aussagen einem Realitätscheck standhalten.
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