"Nacktheit ist grundsätzlich kein Problem"

Straberger, Böhringer und Stoidl im Interview über "Wildwuchs" im Internet, "Shaming", warum es "in" ist, ein Werberat zu sein und weshalb Junge Werberäte strenger judgen.

Der Werberat ist stetig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Im vergangenen Jahr sind mehr Beschwerden als jemals zuvor eingegangen. Warum das so ist, was durch Influencer und Co, noch alles auf die Werberäte zukommt, und welche Rolle Buchungsautomatisierung spielt, erläutern Präsident Michael Straberger, Geschäftsführerin Louisa Böhringer und ihre Vorgängerin Andrea Stoidl im LEADERSNET-Interview.

LEADERSNET:  Es gab personelle Rochaden, sind damit auch neue Ideen und Chancen verbunden?

Straberger: Ja durchaus, die Veränderungen betreffen zwei Bereiche. Die größere war der Wechsel der Geschäftsführung. Andrea Stoidl hat beschlossen, sich nach fast zehn Jahren zurückzuziehen, sie wird aber weiter die Kommunikationsagenden betreuen. Durch einen glücklichen Zufall konnte ich Louisa Böhringer für die Geschäftsführung gewinnen.

Der zweite Teil der personellen Veränderungen betrifft den Vorstand. Allen voran übergab unser langjähriger und sehr engagierter Vize-Präsident Thomas Prantner aus Zeitgründen seine Funktion an Roland Weissmann, der den Werberat zuerst als Mitglied des Entscheidungsgremiums und schließlich als Vorstandsmitglied sehr gut kennt. Die weiteren Veränderungen im Vorstand entstanden vor allem aufgrund der personellen Veränderungen innerhalb unserer Trägervereinsmitglieder, die entsprechend unserer Statuten ihre Vertretungsbefugten selbst bestimmen und entsenden.

An dieser Stelle danke ich all meinen langjährigen Vorstandsmitgliedern für die konstruktive Arbeit der vergangenen Jahre und freue mich auf den „frischen Wind“ durch unsere nachbesetzten Mitglieder.

Eines kann ich jedenfalls auch nach 10 Jahren behaupten: Der Vorstand des Österreichischen Werberates ist ein hochkarätiges Gremium bestehend aus den besten Köpfen und Innovationsgebern der einzelnen Branchenbereiche.

LEADERSNET: Die Beschwerdebilanz ist immer von besonders großem Interesse. Gab es heuer mehr Beschwerden als im Vorjahr?

Straberger: Wir haben ein „Top-Jahr“, es gab 228 Entscheidungen, das ist im Vergleich zum Jahr 2016 ein Plus von gut 20 Prozent. Daraus entstanden 18 „Stopp“-Entscheidungen und 23 Sensibilisierungsaufforderungen, also jene Fälle, wo das Unternehmen sozusagen „scharf ersucht“ wird, die Sujets entweder Off Air zu nehmen oder abzuändern. In 74 Fällen gab es aus Sicht des Entscheidungs-Gremiums keinen Grund zum Einschreiten.

LEADERSNET:  Bleiben die Sensibilisierungsaufforderungen nur Aufforderungen oder handeln die Unternehmen auch?

Straberger: Unternehmungen, die professionell agieren, reagieren im Normalfall prompt. Heuer gab es 22 sofortige Sujet-Rücknahmen. Das ist auch etwas, das über die Jahre kontinuierlich steigt.

Stoidl: Ich finde es ist eine der wesentlichsten Zahlen. Sie zeigt die Akzeptanz des Werberates, die in den letzten 10 Jahren aufgebaut wurde. In diesen Fällen ging eine Beschwerde aus der Bevölkerung beim Österreichischen Werberat ein. In unserer Verantwortung wirklich jede Eingabe zu behandeln und zumindest im Sinne unserer Sprachrohrfunktion zu vermitteln, wird die Beschwerde seitens der Geschäftsstelle aufgenommen und zuallererst das Unternehmen kontaktiert. Das heißt, wir treten in den aktiven kommunikativen Austausch mit den werbetreibenden Unternehmen und die oben erwähnte Kennzahl der 22 Sujet-Rücknahmen zeigt eben deutlich, dass dieser Austausch großteils positiv gesehen wird und die Bereitschaft zu handeln und bewusste Zeichen zu setzen erneut gestiegen ist.

LEADERSNET:  Das Beschwerdeverfahren findet im Falle der Rücknahme gar nicht statt?

Straberger: Genau. Hier wird im Vorfeld mit den Unternehmen eine gemeinsame Lösung erarbeitet. Die Bereitschaft die Werbemaßnahme sofort zurück zu ziehen oder zu ändern hängt natürlich ein bisschen davon ab, über welche Kanäle kommuniziert wurde. Bei TV-Spots zum Beispiel gibt es oft andere Spots, die mitgedreht worden sind. Man entscheidet einen Sujet-Wechsel und nimmt den Spot, der kritisiert wurde, aus dem Medienbuchungssystem heraus. Es gibt auch Fälle, in denen der Werberat nicht zuständig ist, oder die Unterlagen, die eingereicht werden, zu wenig aussagekräftig sind. Diese Beschwerden können wir nicht behandeln.

LEADERSNET: Gibt es auch Unternehmen, die aus Kalkül "grenzwertige" Werbung machen?

Straberger: Ja, jedoch immer weniger. Aus deren Sicht präsentiert sich die Lage so: "wenn ich im besten Fall sogar einen Stopp bekomme, generiert dies zusätzliche PR". Professionell agierende Unternehmungen haben jedoch schon lange erkannt, dass sie mit ethisch und moralisch untergriffigen Werbungen und in Folge dann dem Stopp des Werberates ihrem Marken-Image langfristig nichts Gutes tun.

Zusätzlich wollen wir ein aktives „Shaming“, wie es in anderen Ländern praktiziert wird,  nicht vorantreiben,  weshalb wir nie Sujet-Namen, weder den Marken- oder Kundennamen, noch die bildlichen Umsetzungen nennen.

Vielmehr haben wir ein weiteres Zeichen in Richtung Qualitätsoffensive gesetzt und beispielsweise den Leitfaden „Do’s and Dont’s in der Werbung“ im letzten Jahr herausgebracht. Eine praktische Orientierungshilfe für werbetreibende Unternehmen, welche ethischen und moralischen Richtlinien in der Werbung gelten und in der Gesellschaft akzeptiert und positiv aufgenommen werden.

LEADERSNET: Welche Werbegattung liegt im Beschwerde-Ranking vorne?

Straberger: Hier gibt es gravierende Veränderungen. Bisher waren immer Plakate und TV in den Spitzenrängen, nun ist es erstmals so, dass die größte Anzahl aus dem Internet kommt.

LEADERSNET: Welche Rolle spielt Social Media?

Straberger: Eine große sogar. In diese Richtung wird auch die Entwicklung des Ethik-Kodex vorangetrieben.

Es gibt aktuell zwei Themenkreise, die uns besonders beschäftigen. Das eine ist die Platzierung von Werbung im sicheren Umfeld. Denn durch die teilweise Buchungsautomatisierung von Bannern zum Beispiel, passiert es immer wieder, dass gute Werbung auf schlechte Seiten kommt. Darauf machen wir aufmerksam und geben mit Unterstützung der Mediaagenturen den Auftraggebern Inputs, wie so etwas zu verhindern ist.

Das zweite Thema könnte man unter dem Stichwort „Ethik und Moral für den Influencer-Markt“ zusammenfassen. Es herrscht viel freier Wildwuchs in dieser neuen Szene. Wir wollen die unterschiedlichen Interessen der Player, die selbst in diesem Influencer-Marketing aktiv sind, zusammenfassen. Mit dem Ziel, einen seriösen, ethisch-moralischen Standard zu schaffen.

LEADERSNET:  Ist es in der Branche "in" ein Werberat zu sein?

Stoidl: Mit zwölf Werberäten hat es begonnen, jetzt sind es über 240. Definitiv - es gibt eine permanente Nachfrage, ob man nicht in das Gremium eingeladen wird - obwohl die Tätigkeit zeitintensiv ist. Unsere 242 Werberäte machen das alle ehrenamtlich nebenbei. Um den Zeitaufwand so gering wie möglich zu halten, haben wir ein gut funktionierendes Onlinesystem entwickelt, mit dem eine Entscheidung relativ rasch getroffen werden kann. Aber man muss sich trotzdem sehr wohl intensiv mit der Fragestellung auseinandersetzen. Erfahrene Werberäte brauchen circa eine viertel Stunde pro Fall.

LEADERSNET: Fungiert man dann auch als eine Art "Botschafter"?

Straberger: Ja, es gibt ja wirklich viele Kollegen in der Branche, die einfach aus Lust und Leidenschaft über wichtige Themen sprechen und diese auch hinaustragen. Besonders Provokationslevels und gesellschaftspolitische Themen bringen die Werberäte zum "Botschaften".

Böhringer: Interessant und auffällig ist auch, dass gerade die Mitglieder der "jungen Werberäte" - zwischen 16 und 29 Jahren - strenger judgen - und das nachweisbar signifikant.

LEADERSNET:  Womit kann das zu tun haben?

Böhringer: Mit der eigenen Betroffenheit zum einen. Also gerade was Verunglimpfung von Menschen betrifft, das fällt bei uns unter Ethik und Moral, sind sie strenger. Auf der anderen Seite sieht man, dass die klassischen Rollenbilder bei den Jungen nicht mehr akzeptiert werden. Auch bei Geschlechterdiskriminierung entscheiden sie generell um eine Spur strenger als die etablierten Werberäte.

LEADERSNET: Wie können Werbetreibende herausfinden, welche Sujets sozialverträglich sind und welche nicht?

Böhringer: Dafür haben wir unser Service Pre-Copy-Advice installiert, das Werbetreibenden die Möglichkeit zur Vorabfrage ihrer Werbesujets gibt. Es wird in einem kleinen Team ganz diskret in der Geschäftsstelle beurteilt. Das heißt natürlich nicht, dass das absolut verbindlich ist, dass es keine Beschwerde darüber gibt oder auch, dass das Beschwerdeverfahren anders ausgeht.

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