Ja zu Europa – aber auch zu Reformen!

| Redaktion 
| 25.06.2023

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Ich bin glühender Europäer – und dafür gibt es viele Gründe. Denken wir nur an das frühere Europa ohne Reisefreiheit bzw. ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit, wie ich und bestimmt viele von Ihnen es noch erlebt haben. Aber auch jüngere Entwicklungen bestätigen mich darin, militärisch – Stichwort Russland – haben wir nur als Europa eine Chance, wirtschaftlich können wir gegenüber den USA, oder noch wichtiger China, nur geeint bestehen.

Reformbedarf erforderlich

Meine geneigten Leser:innen wissen schon, dass nun ein Aber kommen muss. Richtig, denn obwohl ich glühender Europäer bin, muss ich bemängeln, dass die sie repräsentierenden Institutionen enormen Reformbedarf aufweisen. Wir haben ein undurchsichtiges Bürokratiemonster geschaffen, das weder transparent, noch effizient, und in großen Teilen auch nicht demokratisch ist, außerdem verschwenderisch und obendrein "selbstverliebt" handelt. Wir, die Bürger:innen, aber vor allem die Mitgliedsstaaten, hätten es in der Hand, diese Missstände zu ändern und damit die zunehmende EU-Skepsis, ja teilweise Ablehnung, zu bremsen und statt dessen die Bürger:innen wieder für das gemeinsame Europa zu gewinnen und zu begeistern.

Grundsatz: "Alle Stimmen müssen gleich viel zählen"

Konkret möchte ich auf drei Dinge eingehen, die nicht oder nur selten Teil der öffentlichen Debatte sind:
Erstens: 2024 finden wieder EU-Wahlen statt, gleichzeitig wird die Kommission neu gebildet. Doch wie gehen diese Wahlen eigentlich genau vonstatten? Beginnen wir damit, dass die Anzahl der Abgeordneten, die ein Mitgliedsland entsenden kann, festgelegt ist. Bisher waren es insgesamt 705 Abgeordnete, zukünftig werden es wahrscheinlich etwas mehr sein. Gewusst? So sind etwa aus Luxemburg 6 Abgeordnete, aus Österreich 19 und aus Deutschland 96 Abgeordnete vertreten. Wie diese gewählt werden – ob mittels Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht oder anders – obliegt jedem einzelnen Mitgliedsstaat. Worauf will ich hinaus? Luxemburg hat ca. 660.000 Einwohner:innen, in Österreich leben rund 9 Millionen Menschen und in Deutschland mit circa 84 Millionen beinahe zehnmal so viele. Klingelt da etwas? Dies bedeutet: Ein:e Abgeordnete:r aus Luxemburg "wiegt" etwa 100.000 Stimmen bzw. Einwohner:innen, die er oder sie vertritt, in Österreich kommen rund 500.000 Stimmen bzw. Einwohner:innen auf eine:n Abgeordnete:n und in Deutschland liegt diese Verhältniszahl bei unglaublichen 1:840.000. Das heißt, die Stimmen der großen Länder zählen in Relation viel, viel weniger als jene der kleinen Länder. Bei aller Liebe und Notwendigkeit, auch die Interessen der kleineren zu schützen – DAS kann doch kein demokratisches System eines Parlaments sein. Es muss der Grundsatz gelten, dass alle Stimmen gleich viel zählen.

Neuer Modus Operandi muss gefunden werden

Zweitens: Die Anzahl der Kompromisse führt nicht immer zu guten Entscheidungen. Wie effizient ist es beispielsweise, zwei Parlamentssitze – Brüssel und Straßburg – für ein Parlament zu unterhalten? Dies ist nicht nur Ressourcenverschwendung, sondern macht schnelle und gute Entscheidungen beinahe unmöglich. Ganz abgesehen vom Klimagedanken gehört solch eine "Unnötigkeit" schnellstens abgeschafft – by the way könnte sich Deutschland dann auch gleich vom Bonn-Berlin-Gesetz verabschieden und endlich alle Ministerien in Berlin ansiedeln.

Drittens: Im Halbjahres-Rhythmus übernimmt ein anderes Mitgliedsland die Ratspräsidentschaft. Dieser Ratsvorsitz ist ein wichtiger Treiber von Entscheidungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite für manche Staaten sicherlich auch eine gute Möglichkeit, sich zu präsentieren. Doch führt dieser ständige Wechsel dazu, dass sich ganze Kolonnen von Mitarbeiter:innen aus nationalen Ministerien und Organisationen mit ihren jeweiligen neuen Counterparts des Vorsitzlandes zusammenfinden und auseinandersetzen müssen. Vielfach bedeutet das einen Start von Null und jedenfalls alle sechs Monate eine riesige Reisekarawane. Denken wir alleine an Spanien, das per 1. Juli als nächstes Land den Vorsitz übernehmen wird, gleichzeitig aber für Ende Juli vorgezogene Parlaments-Neuwahlen angesetzt hat – vielleicht etwas viel auf einmal. Hier muss man zu einem anderen Modus Operandi finden, längere Ratspräsidentschaften wären zumindest ein erster Schritt.

Wie immer ließe sich die Liste noch ellenlang fortsetzen, möglicherweise sogar mit wichtigeren Themen, wie etwa der Subsidiarität – also dass nicht auf EU-Ebene geregelt wird, was im Mitgliedsstaat geregelt werden kann. Insgesamt ist es meiner Meinung nach einfach wichtig, dass einmal ein Startschuss für Reformen fällt. Denn vielen ehemals überzeugten Europäer:innen ist ihr Glühen aufgrund der Dysfunktionalität der Institutionen schon abgekühlt, teilweise erloschen.

Lassen Sie uns deshalb umso beherzter gemeinsam an einem starken, voll akzeptierten Europa arbeiten, ohne dem wir ansonsten nicht vorankommen werden. Sagen wir Ja zu Europa und Ja zu den nötigen Reformen.

www.jti.com


Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.

Entgeltliche Einschaltung

leadersnet.TV