Deutschland muss viel mehr Führung wagen!

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Ich bin gebürtiger Deutscher. Warum ich das hier schreibe? Eine Beichte? Nein! Es geht weder um die soziokulturellen Unterschiede zwischen den Österreicher:innen und uns Deutschen, noch um das vermeintliche Verständigungsproblem, das des Öfteren für Heiterkeit sorgt, sondern um viel relevantere Dinge.

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der grausamen Kriegsführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung versucht Österreich, aber vor allem auch Deutschland händeringend seine Rolle in Europa zu finden. Fakt ist, Österreich als neutraler Staat ist bei der militärischen Hilfe außen vor. Diese rote Linie darf klarerweise nicht überschritten werden. Obwohl ich mir zu diesem Thema zumindest einmal eine generelle Debatte gewünscht hätte. Österreich leistet humanitäre Hilfe, versucht eine Vermittlerrolle einzunehmen und würde gerne für sich die Funktion als Friedensstifter beanspruchen. Es gibt einen Korridor, in dem sich Österreich bewegen kann und bewegen möchte. Ob dies alles wirklich immer so zielführend ist, mag dahingestellt bleiben. Die politisch Verantwortlichen schweigen dennoch nicht, halten sich nicht mit Kritik gegen Russland zurück, betonen jedoch immer wieder Österreichs Neutralität.

Die Zeit des Zögerns muss ein Ende haben

Wenn ich einen Blick über die österreichische Grenze werfe, dann wird es schwammiger und diffuser. Deutschland möchte sich im krisengebeutelten Europa als starke Nation präsentieren. Die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Bundeswehr mit einem 100-Milliarden-Euro-Paket zu stärken, hat für ein Aufhorchen gesorgt. Was hat die Regierung vor? Wie geht es weiter? Wird Deutschland endlich seine Führungsrolle in Europa wahrnehmen? Die Debatte ist nicht neu, aber aktueller denn je.

Nach dem G7-Gipfel Ende Juni haben viele auf Klarheit gehofft. Verwirrung war die Folge. Olaf Scholz gab sich zögerlich, verschwiegen und abwartend. Aber auf was soll Deutschland warten? Deutschland wird als Hilfssheriff der USA gesehen. Und das seit Jahren – das ist auch nichts Neues. Wir sind Robin anstatt Batman oder um es auf gut wienerisch auszudrücken: nicht amtsführende Stadträte.

Die Zeit des Zögerns, des Abwartens, der ausweichenden Antworten muss ein Ende haben.
Ich erwarte mir, dass Deutschland endlich seine Führungsrolle ernst nimmt, wie es von vielen weltweit schon lange gefordert wird. Aber allein das Wort „Führungsrolle" lässt viele in Deutschland zusammenzucken. Dabei hat Deutschland seine Aufarbeitung der dunkelsten Zeit längst getan und sollte sich jetzt nicht wegducken.

Selbstverständlich ist es für Deutschland keine leichte Aufgabe, den Führungsanspruch zu stellen – vor allem in Hinblick auf seine Geschichte. Als Deutscher, der in Österreich lebt, ist mir natürlich klar, dass Deutschland dabei die kleineren Mitgliedsstaaten der EU – wie eben Österreich – nicht überfahren darf, sondern auch deren Positionen respektieren und berücksichtigen muss.

Hilfssheriff-Stern gehört abgelegt

Eine Führungsrolle bringt klarerweise mit sich, dass Deutschland seine militärische Position stärken muss. Man muss hier vielleicht auch wieder deutlich zeigen: Wir wollen keinen Krieg, aber die Geschichte zeigt, dass man nur mit Abschreckung andere davon abhalten kann, überrannt zu werden. Doch selbst das ist zu kurz gegriffen. Denn ein europäischer Führungsanspruch bedeutet auch, dass Deutschland maßgeblich zu einer friedlichen Lösung im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beitragen kann. Auch wenn Friedensverhandlungen, wie es sich momentan abzeichnet, in weite Ferne gerückt sind: Irgendwann werden sich Russland und die Ukraine an einen Tisch setzen müssen und dabei sollte Deutschland innerhalb Europas eine bedeutende Rolle spielen. Dies setzt natürlich voraus, dass sich auf russischer Seite überhaupt jemand findet, mit dem man verhandeln kann – Gebietszugeständnisse an Russland sind hier jedoch sicherlich keine Option.

Aber auch bei allen anderen wichtigen Themen wird es Zeit für Deutschland, den Hilfssheriff-Stern abzulegen und endlich seine aktive Rolle in Europa wahrzunehmen, denn Deutschland ist mittendrin und das nicht nur aufgrund seiner geografischen Lage. Der "Zeitenwende", wie Scholz es formuliert hatte, muss ein deutsches Leadership folgen. Deutschland muss sich klar positionieren, es muss das Ruder übernehmen und nicht wie bisher mitschwimmen. Es darf sich jetzt nicht seiner Verantwortung entziehen. Deutschland muss sich endlich dem stellen und mit Vehemenz, aber auch Achtsamkeit den Führungsanspruch in jeglicher Hinsicht – diplomatisch, wirtschaftlich, politisch, intellektuell und auch militärisch UND in Abstimmung und Respekt mit anderen EU-Ländern – übernehmen!

Duckmäusertum ist falsch

Deutschland sollte dabei keine Angst haben, diese Führerschaft zu übernehmen, denn wie sähe denn die Alternativen aus...

Dafür wird es aber vor allem auch politische Leitpersonen brauchen, die sich nicht davor scheuen, offen und ehrlich aufzutreten. Duckmäusertum ist falsch. Es würde dabei sicherlich auch nicht schaden, wenn die deutsche politische Elite etwas charismatischer auftreten würde.

Wir wissen aus unserer 238-jährigen Firmengeschichte, dass Leadership, ein effektives Krisenmanagement und Handeln anstatt herumlamentieren die Gebote der Stunde sein müssen, wenn man den anstehenden Krisen trotzen will....

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