Letztes Wochenende besuchte ich meine Geburts- und Heimatstadt Tübingen. Beim Wiedersehen mit Freund:innen, die ich bereits seit Kindheitstagen kenne, wurden viele, durchwegs positive, Erinnerungen wach. Da drängte sich mir unweigerlich die Frage auf, was es eigentlich bedeutet, "zu Hause" zu sein? Was genau ist Heimat?
Was ist Heimat?
Diese Fragen beschäftigen mich nicht zum ersten Mal. Ich bin in meinem Leben bereits 25-mal umgezogen, ich habe auf drei Kontinenten und in zahlreichen Ländern gelebt und gearbeitet. Die Antwort auf die Heimatfrage fällt mir deshalb nicht leicht. In einer zunehmend globalisierten Welt hat Heimat eine neue, vielschichtige Rolle eingenommen. Früher hätte man gesagt: "Da komm ich her, da bin ich daheim." Doch diese einfache Gleichung gilt heute nicht mehr. Menschen reisen häufiger, leben in verschiedenen Kulturen, siedeln sich an neuen Orten an. Die klassische Vorstellung von Heimat als Ort der Geburt oder Kindheit wird dadurch zunehmend relativiert.
Menschliches Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit
Was jedoch bleibt – unabhängig von Herkunft oder Wohnort – ist das menschliche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit. In einer Welt, die sich rasant verändert, bietet Heimat emotionale Stabilität. Sie erinnert an Werte, Traditionen und persönliche Wurzeln, auch wenn das physische Zuhause wechselt. Manchmal ist dieses Heimatgefühl mit einer idealisierten, fast märchenhaften Sichtweise verbunden. Das birgt die Gefahr, dass Heimat verklärt oder gar instrumentalisiert wird, etwa durch nationalistische Strömungen, die ausgrenzen statt verbinden.
Gerade in Zeiten wachsender globaler Mobilität, zunehmender Migration und drängender Asylfragen werden die Themen Heimat, nationale Identität und Integration immer relevanter. Eine offene, zeitgemäße Definition von Heimat darf daher nicht starr und ausschließend sein. Vielmehr muss sie verschiedene kulturelle Einflüsse aufnehmen und sich weiterentwickeln, ohne jedoch darüber ihre Identität zu verlieren.
Tradition, Verantwortung und ein gesunder Nationalstolz
Tradition, Verantwortung und ein gesunder Nationalstolz können tragende Elemente von Heimat sein, jedoch nur solange sie nicht ins Regressive abgleiten. Traditionen stiften Zugehörigkeit und schaffen Kontinuität, Feste, Rituale und Bräuche verbinden Generationen, erzählen Geschichten und stärken das Gemeinschaftsgefühl. Aber Tradition darf keinesfalls zum Dogma werden, ihre Pflege sollte vielmehr offen, reflektiert und inklusiv erfolgen.
Auch Nationalstolz kann und muss sogar– richtig verstanden! – eine Rolle spielen. Gemeint ist hier kein überhöhter Stolz, der sich über andere erhebt, sondern ein bewusstes, kritisches Bewusstsein für die Werte, Leistungen und Besonderheiten eines Landes. Er respektiert Vielfalt, fördert eine offene Gestaltung und verschließt sich nicht.
Ein oft übersehener Aspekt von Heimat ist die Verantwortung – oder wie ich es nennen möchte: die Pflicht. Sie besteht darin, die Werte, die Heimat ausmachen, zu bewahren und gegebenenfalls auch zu verteidigen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, mit Waffen, sondern mit Haltung, Zivilcourage und Engagement für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde einzustehen.
Zudem haben sich in der modernen Welt neue, ortsunabhängige Formen von Heimat entwickelt. Digitale Räume, transnationale Gemeinschaften oder geteilte Interessen können ebenfalls Heimat bieten. Heimat ist heute nicht zwangsläufig ein geografischer Ort, sie kann auch in einer Sprache, einer Lebensweise, in Musik, Religion oder gemeinsamen Überzeugungen liegen.
Heimat ist ein Gefühl, eine kulturelle und emotionale Verwurzelung
Meine geneigten Leser:innen wissen, dass ich mich in vielen Ländern und Städten zu Hause fühle: in Cafés in Buenos Aires, in den Straßen von Tel Aviv, in den Bergen Tirols, in den Gesprächen mit Kolleg:innen auf der ganzen Welt. Doch Heimat, im tiefsten Sinn, gibt es, für mich letztlich nur eine nicht rational nachvollziehbare. Sie hat mit Erinnerungen zu tun, mit Gerüchen, mit vertrauten Stimmen, mit dem Gefühl, angekommen zu sein.
Heimat hat damit kein fest definiertes Konzept. Sie ist ein Gefühl, eine kulturelle und emotionale Verwurzelung, die jede:r auf ganz eigene Weise empfindet. Ob in einem Ort, einer Gemeinschaft oder in sich selbst – Heimat bleibt individuell und doch universell zugleich. Dies ist auch das Schöne an Heimat.
www.jti.com
Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir, unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.
Entgeltliche Einschaltung