Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Jubiläen als Chance zur Reflexion

| Redaktion 
| 27.04.2025

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

80, 70, 30 – diese drei Zahlen begegnen uns derzeit in Österreich laufend. Sie stehen für bedeutende geschichtliche Meilensteine: vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag und somit die Grundlage der staatlichen Souveränität unterzeichnet und 30 Jahre sind vergangen, seit Österreich der EU beigetreten ist und damit einen Schritt in Richtung europäischer Integration gesetzt hat. Diese Jubiläen sind zweifelsohne Anlässe zum Feiern. Doch vielleicht sollte man dieser Ereignisse nicht nur gedenken, sondern sie auch zur kritischen Reflexion nutzen: Was haben wir gelernt? Was sollte – oder muss – sich ändern?

"Der Krieg ist real, brutal und nah"

Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert nicht nur das Ende eines beispiellosen Menschheitsverbrechens, sondern auch den Beginn einer langen Friedensperiode in großen Teilen Europas. Ausgelöst durch einen fanatischen Deutsch-Österreicher, brachte der Krieg unvorstellbares Leid, Grausamkeit und Unmenschlichkeit mit sich. 80 Jahre mögen lange erscheinen, sie entsprechen etwa einem Menschenleben, doch im Vergleich zur Geschichte der Menschheit ist es nur ein kurzer Abschnitt. Und selbst innerhalb dieses Zeitraums war Frieden nicht überall Realität. Viele Menschen in Europa mussten auch nach 1945 unter autoritären, kommunistisch geprägten Regimen leben. Der sogenannte "Kalte Krieg" verhinderte durch gegenseitige Abschreckung einen weiteren globalen Konflikt – ein fragiler Zustand, den man kaum als echten Frieden bezeichnen kann. Heute sind wir erneut mit Krieg in Europa konfrontiert. Russlands Angriff auf die Ukraine ist nicht nur ein Akt der Aggression gegen einen Nachbarn, sondern auch ein Angriff auf die Werte des Westens. Der Krieg ist nicht mehr bloß virtuell oder diplomatisch – er ist real, brutal und nah.

Wer Frieden erhalten will, muss bereit sein, ihn zu verteidigen

Viele Menschen in Österreich und Europa haben nie einen Krieg erlebt. Frieden und Demokratie werden demnach oft als selbstverständlich hingenommen. Doch wer Frieden erhalten will, muss bereit sein, ihn zu verteidigen – geistig, gesellschaftlich, militärisch. Dazu gehört eine ehrliche, schonungslose Aufklärung, es braucht ein neues Denken, das auch unbequeme Wahrheiten zulässt. Wie wichtig Kriegstüchtigkeit in diesem Zusammenhang ist, habe ich in meinem vergangenen Gastkommentar thematisiert und dargelegt.

Österreich muss sich den Herausforderungen der Gegenwart stellen

70 Jahre Staatsvertrag sind ein beachtlicher Meilenstein, seine Unterzeichnung im Jahr 1955 markierte die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität – fünf Jahre nach der Bundesrepublik Deutschland. Einige Bestimmungen wurden in die österreichische Verfassung aufgenommen – ein Dokument, das aus meiner Sicht weder kohärent noch zeitgemäß ist, sondern aus einer Vielzahl verstreuter Regelungen besteht, wie ich in früheren Gastkommentaren bereits ausgeführt habe. Der Staatsvertrag kann aber als beispiellose Errungenschaft der damaligen Verhandler mit der Sowjetunion bezeichnet werden. Nach 70 Jahren muss aber die Frage erlaubt sein, wie bindend ein Vertrag noch sein kann, dessen weltpolitische Rahmenbedingungen sich grundlegend verändert haben? Der einstige Vertragspartner hat sich zum Aggressor entwickelt. Manche Pflichten, die dem Staatsvertrag heute zugeschrieben werden – etwa die Neutralität – sind nicht direkt in diesem verankert, sondern wurden später durch ein eigenes Verfassungsgesetz definiert. Es wäre daher angebracht, nicht nur in Festreden auf den Erfolg zurückzublicken, sondern offen zu diskutieren, wie die Inhalte des Staatsvertrags im Lichte heutiger Realitäten verstanden und weiterentwickelt werden sollten. Die Welt von 1955 ist nicht die Welt von 2025. Österreich muss sich den Herausforderungen der Gegenwart stellen – mit klarem Blick und mutiger Sprache.

Europas Antwort auf eine sich verändernde globale Ordnung

30 Jahre EU-Mitgliedschaft: Österreichs Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1995 war ein entscheidender Schritt in eine gemeinsame Zukunft. Wirtschaftlich hat das Land davon erheblich profitiert, ebenso im Bildungsbereich und in der gesellschaftlichen Entwicklung. Trotz berechtigter Kritik an bürokratischen und politischen Schwächen bleibt die EU ein Erfolgsprojekt – vor allem, weil sie Europas Antwort auf eine sich verändernde globale Ordnung ist. Angesichts geopolitischer Verschiebungen ist völlig klar, dass kein einzelner Staat Europas groß genug ist, um diesen Entwicklungen allein zu begegnen. Die EU ist unsere Antwort auf diese Herausforderungen – mit all ihren Unvollkommenheiten. Die oftmals beklagten Schwächen der Union rühren nicht selten daher, dass hier 27 unabhängige Staaten an einem Tisch sitzen, während ihre globalen Gegenüber häufig zentralisiert agieren. Gerade deshalb braucht es mehr Verständnis für die Komplexität europäischer Entscheidungsprozesse, bevor man womöglich vorschnell Kritik übt.

Und doch: Österreich trat erst 1995 der EU bei – ein später Schritt, der dazu führte, dass europäische Programme wie ERASMUS oder grenzüberschreitende Partnerschaften hier weniger tief verwurzelt sind als etwa in Deutschland. Auch das sollte man bei einem Jubiläum reflektieren.

Kritische Selbstbefragung 

Was ich mit all dem sagen möchte: Es ist gut und wichtig, Jubiläen zu feiern – sie geben Anlass, stolz auf Erreichtes zu sein. Doch sie sollten auch zur kritischen Selbstbefragung dienen. Was bedeuten Frieden, Freiheit und europäische Zugehörigkeit heute? Wie sichern wir sie für morgen? Österreich hat viel geleistet und genießt international Ansehen. Gleichzeitig ist es dem Land da und dort gelungen, sich mit seinem oftmals pragmatisch-opportunistischen Zugang zur Politik auf typisch österreichische Art "durchzulavieren". In Zeiten wie diesen – mit Krieg, geopolitischem Umbruch und innerer Verunsicherung – wirkt dieses Verhalten zunehmend anachronistisch und wird nicht selten als "Trittbrettfahrertum" wahrgenommen.

Manches davon mag übertrieben sein, einiges aber durchaus berechtigt. Vielleicht markieren diese Jubiläen genau deshalb den richtigen Zeitpunkt, Überholtes zu diskutieren und den nächsten Schritt zu machen: raus aus der Komfortzone, hin zu einer klaren Haltung, zu Verantwortung und zur aktiven Mitgestaltung Europas.

www.jti.com


Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir, unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.

Entgeltliche Einschaltung

leadersnet.TV