"Digitale Angebote schaffen eine andere Form von Nähe und Bindung"

Digital-Experte Istvan Szilagyi im Gespräch über das Spannungsfeld zwischen Digital und Analog, CO2-Reduktion durch Digitalisierung und Storytelling auf Basis von Wissensdatenbanken.

Die im April 2020 aufgrund des Covid-19-bedingten Rückzugs ins Private von der Wiener Digital-Agentur treat.agency ins Leben gerufene Plattform "not cancelled" schlägt internationale Wellen. Ausgehend von Wien findet das neue, digitale Format der Kunstvermittlung mittlerweile in der 16. Edition statt. Istvan Szilagyi, Gründer und Geschäftsführer von treat und Initiator der Plattform, sieht auch in anderen Branchen plötzlich neue Offenheit gegenüber der Digitalisierung mancher Geschäftsbereiche, für die er schon seit Jahren plädiert. LEADERSNET traf Istvan Szilagyi zum Interview und plauderte mit ihm darüber, welche Art von Content jetzt gefragt ist, wieviel Mehrwert ein digitales Erlebnis eigentlich bieten kann und das neue, digitale Format der Kunstvermittlung.

LEADERSNET: Mit "not cancelled" hat Ihre Digital-Agentur treat.agency Österreichs erste online-only Kunstwoche ins Leben gerufen. Wie kommt man auf so eine Idee – was war Ihre Intention?

Szilagyi: Primär war es im Lichte des Lockdowns und der notgedrungenen Abstandsregelungen unser Ziel, der Wiener Kunst- und Galerie-Szene unter die Arme zu greifen. Während dem Lockdown war die Verzweiflung innerhalb meines Netzwerks in der Kunstwelt groß, wie in den meisten anderen Branchen auch. Da haben wir angesetzt und kurzerhand mit dem Projekt „not cancelled“ eine Online-Sammelausstellung auf die Beine gestellt. Es war uns wichtig dabei zu berücksichtigen, was viele andere Online-Lösungen verpasst haben: Werke so übersichtlich darzustellen, wie es nur online möglich ist – und dies ohne unnötige Klicks. So kam unser Grid-Layout zustande.

Mittlerweile findet not cancelled in der 16. Edition statt. 237 Galerien von Wien über Warschau, Paris, Chicago, Tokyo, Barcelona, Italien bis nach Dubai nutzten die Plattform, die bis dato über 100.000 Views verzeichnet.

LEADERSNET:  Was bedeutet die neue Visibilität für die teilnehmenden Galerien? Und was meinen Sie ist der Grund für den Erfolg des Formats?

Szilagyi: Unser Erfolg ist auf die richtigen strategischen Entscheidungen zurückzuführen: Mit dem Grid schaffen wir einen sehr einfachen Zugang für alle Besucherinnen und Besucher und mit dem Rahmenprogramm bieten wir einen spannenden Kontext, was online sehr wichtig ist. Es hilft auch, dass wir ein sehr benutzer*innenfreundliches Interface für die Datenverwaltung gebaut haben. Viele der teilnehmenden Galerien verkauften erstmalig ein Werk online – wir sind sehr stolz darauf, dass unsere Plattform das ermöglicht hat.

LEADERSNET: Wie nachhaltig nutzbar sind diese neuen Erfolge?

Szilagyi: Für uns lässt sich plötzlich Vieles umsetzen, was wir seit Jahren fordern. Die Digitalisierung der Kunst- und Kulturszene ist meiner Meinung nach eine Chance für mehr Nachhaltigkeit in der Zukunft. Es lässt sich einiges auf den digitalen Raum verlagern, wenngleich nicht alles. Das System von „not cancelled“ selbst setzen wir ohnehin schon länger ein, es ist aus unserem existierenden CMS entstanden. Nur so waren wir überhaupt in der Lage, so schnell zu agieren. Wir sind gerade dabei sinnvolle Produkte aus „not cancelled“ für die Zukunft anzubieten.

LEADERSNET: Wie sind Ihre Erfahrungen damit, die Digitalisierung in der Kunst-Branche voranzutreiben?

Szilagyi: Es gibt Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen Oberflächlichkeit einzelner Social Media-Plattformen, wie etwa Instagram. Viele Kuratorinnen und Kuratoren oder andere Akteure finden keinen Zugang, um ihre Inhalte richtig zu vermitteln. Dabei ist die Lösung überraschend augenscheinlich, nämlich mit der richtigen Aufarbeitung. Auch die Etablierung der Kennzahlen ist eine Herausforderung: Die meisten großen Kulturbetriebe sind darauf ausgerichtet, möglichst viele physische Besucher anzuziehen. Eine Finanzierung ist oft von den Besucherzahlen abhängig. Dabei werden aber Konsumentinnen und Konsumenten von Online-Inhalten komplett ausgeblendet. Hier bräuchte es insbesondere ein kulturpolitisches Umdenken.

LEADERSNET: Und auf Konsumentenseite: Welche Art von Content ist jetzt gefragt?

Szilagyi:  Menschen durchschauen die gängigen Marketingtricks heute viel besser, als noch vor wenigen Jahren. Besonders Millenials sind oft sehr bewusste Konsumentinnen und Konsumenten. Die Diskussion um authentische Inhalte ist sehr spannend – es fällt den meisten Marken schwer, loszulassen und Inhalte zu publizieren, die auch Schwächen zeigen. Es wird immer noch versucht, die perfekte Welt darzustellen.

LEADERSNET: treat.agency wirkt neben dem Art & Knowledge-Sektor für Unternehmen aus Branchen wie Food & Beverage und Retail. Wo könnte man eine Plattform wie not cancelled abseits der Kunst- und Galerieszene noch einsetzen?


Szilagyi: Sehr wenige Unternehmen wissen, dass sie für erfolgreiches Social-Media-Marketing die gleichen Prinzipien wie die Kunst- und Kulturbranche anwenden könnten. Storytelling ist nichts anderes als die Vermittlung von Wissen: Es zählt also der Aufbau entsprechender Wissensdatenbanken auch für ganz andere Branchen, um eine Basis für die weitere Vermittlung zu schaffen. Nur so kann effizient und nachhaltig kommuniziert werden. Die technischen Strukturen dafür sind die gleichen wie bei „not cancelled“.

LEADERSNET:  Während dem Lockdown war der Rückzug ins Private notgedrungen – und damit auch der plötzliche Bedarf an digitalen Angeboten wie „not cancelled“ als Alternativen zum Analogen. Viele Unternehmen hat die Krise regelrecht ins Online-Business getrieben. Welche Fehler müssen jetzt vermieden werden?

Szilagyi: Ich verstehe natürlich den enormen Druck. Aber man sollte aufpassen, nicht zu unüberlegt zu agieren. Ohne strategische Basis setzt man leicht viel Geld in den Sand, ohne Ergebnisse. Für uns ist immer klar: Wir starten jedes Projekt mit der Strategie, um sicherzustellen, dass wir das Richtige tun. Für diesen Prozess fehlt oft das Verständnis, dabei ist es besonders für die Absicherung der Auftraggeberinnen und Auftraggeber wichtig, die Ziele von Anfang an klar gesetzt zu haben.

LEADERSNET: In der Digital-Branche fällt oft der Begriff Experience. Wie viel Mehrwert kann ein digitales Erlebnis bieten und wo sehen Sie persönlich die Grenze? Wann ist der Faktor Mensch oder das analoge Erleben dringend notwendig – oder stehen wir generell vor einem Paradigmenwechsel weg vom Echten und hin zum Virtuellen?

Szilagyi: Auch Post-Corona werden die sozialen Interaktionen gleichauf wichtig sein, das steht außer Frage. Die digitale Experience kann die physische nicht ersetzen und erhebt diesen Anspruch auch gar nicht. Mit digitalen Angeboten soll ein Mehrwert geboten werden, der eine andere Form von Nähe und Bindung zu einem Unternehmen schafft. Vieles kann im Sinne der Nachhaltigkeit digitalisiert werden.

LEADERSNET: Zum Beispiel?

Szilagyi: Etwa groß angelegte Produktpräsentationen. Diese Transformation schaffen selbst die ganz Großen, siehe Apple. Für national und lokal agierende Unternehmen ist dieser Schritt logistisch wesentlich leichter. Sinnvoll ist es, von Fall zu Fall das richtige Format zu wählen. Die Diskussion über die Nachhaltigkeit in der Kunstwelt nimmt in letzter Zeit endlich Fahrt auf. Überraschenderweise nimmt dabei die mögliche Rolle der Digitalisierung im Sinne der CO2-Reduktion aber keinen oder wenig Platz ein. Es gäbe aus meiner Sicht relevante Umsetzungsmöglichkeiten für digitale Angebote, vor allem bei kulturbedingten Reisen. Das Kunst- und Kulturpublikum neigt dazu, Talks, Panels etc. in Person zu besuchen – ein Format, das komplett abgelöst werden könnte.

LEADERSNET: Stichwort Remote: Wie haben Sie als Digital-Experte Ihr Agentur-Team und ihre laufenden Kundenetats durch die Corona-Krise manövriert? Mussten auch Sie sich digitaler aufstellen?

Szilagyi:  Für uns als Team hat es praktisch keinen Unterschied gemacht. Auf Dauer haben wir aber gemerkt, dass die kreative Energie in Person viel stärker aufgeladen wird, als remote. Die soziale Komponente bei der Arbeit ist nicht zu unterschätzen. Für unsere Etats lief es allerdings gleich gut, wie vor der Krise. Ich denke, in Zukunft werde ich glücklicherweise auf den einen oder anderen Flug verzichten können. Sowieso habe ich mir vorgenommen, ab 2020 nur noch mit dem Zug zu fahren.

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