Nach den Wahlen in Österreich und Deutschland machen viele Umfrageinstitute, Parteien und die Medien für das Erstarken der Rechten und Linken vor allem das Thema der fehlenden "Sozialen Gerechtigkeit" verantwortlich. Ist das tatsächlich so, und was ist soziale Gerechtigkeit überhaupt? Wie meine geneigten Leser:innen vielleicht schon wissen, versuchen wir, dies zuerst einmal von Anfang an zu verstehen.
Zunächst bezieht sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit grundsätzlich auf die gesellschaftliche Leitidee, dass die Güter und Lasten in einer Gesellschaft zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen möglichst gerecht verteilt werden. Dieser Gedanke führt uns erstmal nicht viel weiter...
Vier zentrale Gerechtigkeitsprinzipien
Vielleicht hilft uns die Soziologie, die meist vier zentrale Gerechtigkeitsprinzipien unterscheidet: das Leistungsprinzip, das Anrechtsprinzip, das Bedarfsprinzip und das Gleichheitsprinzip. Andere vertreten die Auffassung, dass es vier Säulen braucht, um soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen: Menschenrechte, Zugang, Beteiligung und Gleichberechtigung.
Betrachtet man nun globale Forschungen, so würde fast jede Analyse darin resultieren, dass in Europa diese Prinzipien grundsätzlich alle gegeben sind. In vielen westlichen Ländern, einschließlich Deutschland und Österreich, existieren stabile soziale Sicherungssysteme, weitgehend gleiche Zugangschancen zum Bildungssystem und eine hohe Verfügbarkeit öffentlicher Dienstleistungen.
Verzerrtes Bild der Realität
Warum empfinden dann trotzdem viele Menschen eine gewisse soziale Ungerechtigkeit? Ein Grund hierfür ist zum einen die Verbreitung von Fehlinformationen, die sowohl von führenden Politiker:innen aus dem linken als auch aus dem rechten Lager verbreitet werden. Ein Beispiel dafür sind Behauptungen, dass "die Reichen" nicht genug zur Gerechtigkeit beitragen würden – was durch einen Blick auf die Einkommenssteuerbelastung leicht widerlegt werden kann. Ebenso gibt es die weit verbreitete Behauptung, dass Banken und Energieunternehmen von Krisen auf Kosten der Bevölkerung profitieren. Solche Aussagen sind häufig von marxistischer oder nationalistischer Rhetorik durchzogen und halten einer faktenbasierten Analyse oftmals nicht Stand. Hier wird also bewusst ein verzerrtes Bild der Realität erzeugt. Ein weiterer Ausdruck dieser verzerrten Wahrnehmung ist der beispielsweise vom Österreichischen Vizekanzler Andreas Babler gebrauchte Begriff "breite Schultern", der typisch für klassenkämpferische Rhetorik ist und zu einem falschen Bild der Realität führt.
Interessant also, dass sich die eben angelobte Bundesregierung in ihrem ersten Ministerrat u. a. unmittelbar auf eine Verlängerung des Spitzensteuersatzes um weitere vier Jahre sowie auf die im Wahlkampf viel diskutierte Bankenabgabe verständigt hat. Ich bin gespannt, ob das tatsächlich dazu beiträgt, das Gefühl sozialer Gerechtigkeit in der Bevölkerung zu stärken – ich habe da allerdings große Zweifel, ebenso wie an der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen.
Bedarfsprinzip und Gleichheitsprinzip
Im klassischen Sinne, so meine Interpretation, soll soziale Gerechtigkeit sicherstellen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, durch eigene Leistung (Leistungsprinzip) das Gleiche zu erreichen und sich selbst zu versorgen. Auch wenn es berechtigte Kritik am Bildungssystem in Deutschland und Österreich gibt, so ist im internationalen Vergleich doch die Möglichkeit für jede:n gegeben, sich eine solide Ausbildung anzueignen. Natürlich sollte jede:r das Anrecht auf diese Bildung haben. Zudem sollte im Verlauf der Ausbildung, aber auch in jeder anderen Lebenslage, jeder Mensch die Unterstützung erhalten, die er oder sie benötigt, um seine Grundbedürfnisse zu decken (Bedarfsprinzip). Dabei darf niemand schlechter oder besser behandelt werden als ein:e andere:r, und es ist die Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass niemand benachteiligt wird (Gleichheitsprinzip).
Falsches Verständnis
Wenn all dies nun gegeben ist, warum empfinden dennoch viele einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit? Neben den bereits angesprochenen Fehlinformationen und der mangelnden Kommunikation glaube ich, dass es vor allem an einem falschen Verständnis des Prinzips liegt. Viele sehen soziale Gerechtigkeit nicht als Chancengleichheit, sondern als einen Anspruch auf gleichen "Reichtum". Es herrscht die Vorstellung, dass jede:r das Recht haben sollte, zumindest das zu besitzen, was sein:e Nachbar:in hat. Diese Vorstellung geht jedoch an der Realität und dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit vorbei, die im Wesentlichen Chancengleichheit und nicht eine völlige Gleichheit des materiellen Besitzes fordert.
Der menschliche Faktor Neid
Eine weitere Komponente ist der menschliche Faktor Neid, vor allem in Österreich. Es ist eine bekannte psychologische Tatsache, dass dieser eine zentrale Rolle spielt, wenn es um das Thema soziale Gerechtigkeit geht. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass andere mehr besitzen oder bessergestellt sind, kann dies das Gefühl der Ungerechtigkeit verstärken – unabhängig davon, ob die Verteilung der Ressourcen objektiv gerecht ist. Neid führt oft zu einem verzerrten Wahrnehmungsbild und einem Drang nach sofortiger Ausgleichung, auch wenn dies mit den Grundprinzipien der sozialen Gerechtigkeit nicht im Einklang steht.
Soziale Gerechtigkeit ist stark von persönlichen Erwartungen und gesellschaftlichen Narrativen geprägt. Es ist entscheidend, dass wir die wahren Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit verstehen und nicht in die Falle von populistischen Rhetoriken oder falschen Vorstellungen von Gleichheit tappen. Als Unternehmen können wir dieses Verständnis mitprägen, indem wir unsere Mitarbeitenden befähigen, ihrer eigenen Karrieren und ihres eigenen Glückes Schmied:innen zu sein. Aus unserer über 240-jährigen Unternehmensgeschichte können wir sagen, dass sich dies am besten durch Eigenverantwortung, Wertschätzung und Freude an der eigenen Leistung realisieren lässt.
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