Alles für das Land – auch gegen den Wähler:innenwillen?

| Redaktion 
| 16.04.2023

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Die Sozial- und vor allem die Pensionssysteme in vielen Ländern, einschließlich Österreich und Deutschland, sind überholungsbedürftig, wie sich durch einige Zahlen anschaulich belegen lässt. In Deutschland gab es 1965 etwa 5,5 Beitragszahler:innen pro Rentner:in, welche über einen Zeitraum von etwa zehn bis 11,5 Jahren Rente bekamen. Im Jahr 1990 erhielten Rentner:innen etwa 14 bis 17 Jahre lang Rente, bei nur noch 2,8 Beitragszahler:innen pro Rentner:in. 2021 bezogen Rentner:innen etwa 18 bis 22 Jahre lang Rente, getragen von lediglich zwei Beitragszahler:innen pro Rentner:in.

Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt wendet Deutschland elf Prozent des BIP für Renten auf, während es für Österreichs Pensionen etwa 14 Prozent des BIP sind – Tendenz stark steigend. In Frankreich beliefen sich die Rentenansprüche im Jahr 2020 auf etwa 332 Milliarden Euro, das sind – ähnlich wie in Österreich – etwa 14 Prozent des BIP und 41 Prozent aller Sozialausgaben.

Heißes Eisen

Der französische Präsident hat nun gewagt, dieses heiße Eisen anzufassen und, wie ich finde, zumindest eine kleine Pensionsreform auf den Weg gebracht. Dies ist aber auch der Grund dafür, dass sich das Land nun im Dauerstreik mit teils sehr gewalttätigen Ausschreitungen befindet. Und obwohl Frankreich durchaus streikerprobt ist, sind diese Ausmaße doch ungewöhnlich. Zumindest vordergründig geht es bei den Streiks um die neue Pensionsreform, insbesondere um die damit verbundene Anhebung des Pensionsantrittsalters von 62 auf 64 Jahre im Jahr 2030. Was mir bei dieser Reform allerdings wirklich Hochachtung abringt, ist, dass der französische Präsident Macron sich gegen die – zumindest öffentlich wahrgenommene – Meinung des Volkes durchsetzt, im festen Glauben daran, damit das Beste für das Land zu erreichen. Und geht damit in Richtung des (meinen geneigten Leser:innen wohl bekannten) Kennedy'schen Grundsatzes "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst". Und es scheint dem französischen Präsidenten einerlei zu sein, wenn er damit entgegen der momentanen Meinung des Volkes, jedenfalls eines großen Teils davon, handelt. Und denkt dabei scheinbar kaum darüber nach, ob dies seiner Wiederwahl oder dem Machterhalt dienlich ist.

"Es geht ums Land und nicht um die Macht"

Eine solche Einstellung würde ich mir auch in Deutschland und Österreich von einigen Politiker:innen wünschen. Weil es nämlich ausschließlich ums Land und eben nicht um die Macht gehen sollte. Doch hierzulande wird aus Angst vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Volk keine der großen notwendigen Reformen, vor allem im Pensionsbereich, in Angriff genommen. Und egal, wie man zu Altkanzler Gerhard Schröder stehen mag, seine unpopuläre Agenda 2010 brachte Deutschland wieder den Status der wirtschaftlichen Lokomotive der EU ein. Für seine politische Karriere bedeutete dies das Ende, ebenso wie für wirkliche Reformen, die seither kaum durchgeführt wurden. Das Ergebnis ist – um beim Bild des Zuges zu bleiben –, dass aus der Lokomotive der EU ein Zugabteil zweiter Klasse geworden ist.

"Es bedarf unpopulärer Maßnahmen"

Was zeigt uns das aber? Es zeigt, dass es auch unpopulärer Maßnahmen bedarf, um ein Land nach vorne zu bringen. Leider stellt sich oft die Wahrnehmung ein, dass es sich dabei um Maßnahmen gegen das Volk und somit undemokratische Maßnahmen handle. Dies ist aber meines Erachtens bei weitem nicht der Fall, denn sie entstehen immer noch innerhalb repräsentativer demokratischer Systeme. Wir entscheiden durch unsere Wähler:innenstimmen, wer ein Mandat zum Regieren erhält und wer nicht – und insbesondere, wen wir abwählen. Und zum Glück – so empfinde ich es persönlich –, leben wir nicht in einer Demokratie, in der jede einzelne Entscheidung per Volksabstimmung herbeigeführt werden muss. Dies würde nämlich Unregierbarkeit, mangelnde Planbarkeit und vor allem einen mangelnden Minderheitenschutz nach sich ziehen.

Denken wir an die nähere Zukunft, in der die Rentner:innen die Mehrzahl der Wähler:innen darstellen werden – sollte dann nur noch deren Interessen gedient werden? Alleine deshalb sind solche Handlungen, sofern sie innerhalb der in der Verfassung vorgesehenen Verfahren ablaufen, grundsätzlich normale demokratische Prozesse, die aber mangels Mut nicht allzu oft auftreten.

Trotzdem verliere ich nicht die Hoffnung, dass die Wähler:innen erkennen, dass die herausfordernden Zeiten, in denen wir leben, manch unangenehme und unpopuläre Entscheidung fordert. Nur so kann unser Land und damit ein gerechtes System, unser aller Freiheit, Gesundheit und wirtschaftlich-soziales Wohlbefinden aufrechterhalten werden. Wenn die Wähler:innen jedoch – wie es in Frankreich der Fall ist – ein solches Regierungsverhalten nicht sofort goutieren, so bleibt die Hoffnung, dass zumindest retrospektiv die Einsicht einkehrt, dass die Maßnahmen gut und wichtig waren, wie es auch bei der Agenda 2010 der Fall war.

In unserer 239-jährigen Unternehmensgeschichte gab es sicherlich einige Momente und Entscheidungen, seien es Übernahmen, Fabrikseröffnungen oder -schließungen, die auch zum entsprechenden Zeitpunkt unmöglich erschienen, sich aber retrospektiv fast immer als richtig und gut für das Große und Ganze erwiesen haben.

In diesem Sinne, lassen Sie uns selbst mutiger, diskussions- und auseinandersetzungsfreudiger sein, und fordern wir dies auch von unseren Entscheidungsträger:innen ein.

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