Brüssel, der Regen und die große Idee von Europa

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Der Weg nach Brüssel fühlt sich eigenartig vertraut und doch fremd an. Nach Jahren der Corona-Distanz und der Videokonferenzen aus dem Homeoffice müssen jetzt endlich auch wieder Kolleg:innen und Expert:innen im Zentrum der Europäischen Union persönlich getroffen werden. Welche Themen kommen auf uns zu? Wohin geht Europa angesichts eines Krieges in der Ukraine und stark getrübter Wirtschaftsentwicklung? Wo brauchen Wirtschaft und Industrie klare Handlungsrahmen und wo ist Veränderungsbedarf? All das kann man auch virtuell diskutieren, aber was uns als soziale Wesen ausmacht, ist das direkte Zugehen aufeinander, das persönliche Gespräch.

Schon beim Landen in Brüssel merkt man: eigentlich ist alles wie es war. Heerscharen an Anzugträger:innen ziehen ihre Trolleys durch die Stadt, jeder ist auf der Durchreise, arbeitet seine Agenda ab. Und es regnet. Brüssel ist für tausende Menschen ein Arbeitsplatz und entsprechend leer wird es am Wochenende. Alle Argumente sind eingebracht, alle Präsentationen sind präsentiert, alle Veranstaltungen sind besucht. Bis am Montag wieder alle einsteigen in das Polit-Business-Ringelspiel.

Viele Interessen müssen abgeglichen werden

Nach vielen Jahren in diesem Treiben hat man ja viel gesehen und die Ruhe, einmal einen Schritt zurückzutreten. Unbestritten ist, dass die Europäische Union für 80 bis 90 Prozent unserer Gesetzgebung (mit-)verantwortlich ist und nur ein kleiner Teil rein nationalstaatliche Kompetenz bleibt. Entsprechend unbestritten ist, dass in Brüssel und Straßburg viele Interessen abgeglichen werden müssen. Die Suche nach dem gemeinsamen Konsens bestimmt das Leben hier und der 27-teilige Kompromiss ist immer das Ziel. Wir könnten uns jetzt fragen, ob der kleinste gemeinsame Nenner aller EU-Mitgliedstaaten wirklich den idealen Weg für die Zukunft Europas vorgeben kann. Gleichzeitig muss uns aber auch klar sein, dass ein gemeinsames Europa eben nur in diesem Ausgleich der Interessen funktionieren kann.

Die Corona-Pandemie und speziell der Ukraine-Krieg waren ein Lackmus-Test für die EU-Institutionen und für die Art wie sie arbeiten. Wir haben eine EU gesehen, die kompliziert und mühsam agiert. Aber: sie agiert! Entscheidungen wurden getroffen, von denen viele dachten, dass sie nie zustande kommen können. Nach dem Brexit-Schock war das gemeinsame Kämpfen gegen das Virus als gemeinsamen Feind ein wichtiges Signal in alle Mitgliedstaaten. Jahrelang haben wir gehadert mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Bis der russische Angriff auf die Ukraine uns zur klaren Kante gegenüber dem Aggressor gezwungen hat. Ebenso ist es beim Klimaschutz – denn selbst wenn ein kleines Land wie Österreich alle Klimaziele übererfüllen würde, wäre es noch immer von dutzenden Staaten umgeben, die diese Leistung mit ihrem Nichterfüllen egalisieren.

Kommunikation verbesserungswürdig

Darf man deshalb mit dem was passiert in Brüssel einfach zufrieden sein. Nein! Sicherlich nicht! Denn es fehlt schon an der geeigneten Kommunikation um den Bürger:innen in der EU wirklich auch die Vorteile der EU zu erklären. Da sind wir sicherlich alle gefragt. Darüber hinaus müssen Entscheidungen, die Verwendung der Mittel und auch die entsprechenden Regelungen transparenter und nachvollziehbarer gestaltet sein. Ich bin Rechtsanwalt, aber auch mir fällt es oft schwer, EU-Regelungen und das dahinter gestellte Verfahren wirklich zu verstehen. Zusätzlich bedarf es – wie in unserem Unternehmen mit 238-jähriger Geschichte – eines laufenden und verständlichen Erneuerungsprozesses, sonst endet die Geschichte vielleicht sehr abrupt.

Es gibt also immer viel Grund zur Kritik oder, positiv formuliert, viel Verbesserungspotenzial. Aber es gibt auch viele richtige und wichtige Gründe das, was in Brüssel und Straßburg passiert sehr gut zu finden. Alles, bis auf das belgische Wetter vielleicht.

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