"Du bist hässlich – ich geb dir 0 Punkte"

Julia Emma Weninger expressis verbis über den Drang andere Menschen zu beurteilen und die Emanzipation von alten Hierarchien.

Der Impuls, Menschen und Dinge zu beurteilen und zu bewerten, ist dem Homo Sapiens wohl angeboren und damit universell. In der modernen Gesellschaft mutierte diese Neigung zur totalen digitalen Vermessung der Gesellschaft. Es hat sich geradezu eine (Sehn-) Sucht nach Rankings etabliert, die sich immer weiter verästelt und Ratings und Rezensionen nahezu die Bedeutung einer Währung verschafft.
 
Die Bewertung von Hotels und Restaurants hat ja schon lange Tradition, auch Arbeitgeber und Ärzte sind längst in die Online-Kritik einbezogen, aber nun müssen auch Hinz und Kunz tief Luft holen: Ob Lulu, Peeple, Sarahah, Stroovy und Co. es gibt Apps, mit mit denen sich Durchschnittsbürger beliebig bewerten und entwerten können. Einfach so zum Spaß.
 
Ob nun die Krawatte des Kollegen geschmacklos erscheint, oder die Nachbarin zu freundlich zu Hilfsbedürftigen ist, mit Peeple kann man Personen ohne deren Zustimmung präsentieren und mit 0 bis 5 Sternen bewerten. Immerhin entfachte die Sorge um diese einfache Möglichkeit der Bewertung einen Diskurs, der die Gründer veranlasste, das Procedere zu ändern, um negative Bewertungen unsichtbar zu machen. Gleichzeitig planten sie jedoch eine Bezahlfunktion namens "Truth License", mit der die Negativ-Bewertungen wieder sichtbar würden.
 
Der Kampf um Daten, um alle Menschen in eine beliebige Skala der Bewertung zu pressen, ist voll entfacht. Auch hierzulande.
 
Zuerst Männer, jetzt Lehrer
 
Lulu ermöglicht es, Facebook-Freunde auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten und ihnen Hashtags wie #Mundgeruch und #BigFeet zu verpassen. Männer haben auf die 2016 von der Dating-Plattform Badoo gekaufte App natürlich keinen Zugang.
 
Auch in unseren Gefilden schaffte es eine App, scharfen Wind zu bringen –  zumindest in die Welt der Lehrer, Schüler und Eltern. Die sture Haltung der Lehrer-Gewerkschaft einerseits und das enorme Interesse der Schüler an einer digitalen umgekehrten Zeugnisverteilung bringen die Bildungseinrichtungen in einem Bemühen um konstruktiven Umgang ins Schwitzen. Nach der Aufregung um "Lernsieg" hat die Datenschutzbehörde, die dem Justizministerium untersteht, nun ein "amtswegiges Prüfverfahren" eingeleitet. Die App wurde schon davor offline genommen – der Grund dafür seien "Hassnachrichten" gewesen.

Unternehmen sind große Meister im Bewerten
 
Aber nicht nur der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächen ist vom Trieb besessen, alles zu bewerten, sondern auch Unternehmen entpuppen sich als wahre Meister im Bewerten von Menschen. Nur geschieht dies nicht in aller direkten Offenheit, sondern von Treuesystemen bis zu Kundenpunkteprogrammen entwickelten sich Mechanismen, in denen die Kunden kategorisiert werden. Gesucht wird nicht die Qualität des Menschen, sondern die Merkmale, die ihn in seiner Funktion als Konsument so wichtig machen.
 
Social Scoring und "Meinungs-Surfen"
 
Eine aktuelle Studie des Meinungsforschungsinstituts Yougov in Kooperation mit dem Sinus-Institut bescheinigt den Deutschen ein starkes Bedürfnis, das Verhalten ihrer Mitmenschen stets bewerten zu wollen. Auch sie selbst lassen das gerne zu und hätten auch kein Problem damit, wenn sie selbst durch andere bewertet würden.

Social Scoring ist einer der modernen Versuche, die Eigenschaften von Personen oder soziale Phänomene mit Punktewerten zu beschreiben und dadurch vergleichbar zu machen. Das leuchtet bei Schönheitswettbewerben noch leicht ein, führt aber bald zu ungeheuren Datenmengen und Algorithmen, um das Verhalten von Personen zu klassifizieren, vorherzusagen und beschreiben zu können.

Umgedrehte Machtverhältnisse
 
Die Menschen reden also alle gerne und besonders viel Spaß macht dies über andere Menschen, Klatsch und Tratsch beinhalten immer auch eine Bewertung. Die Ansatzpunkte sind stets entweder besonders negative Erfahrungen oder ein besonders positives Erlebnis. Das Internet schafft neue Kontexte, Ratings und Rezensionen bilden nahezu eine neue Form der Währung. Die Bewertung durch den Einzelnen gilt also wenn man Soziologen Glauben schenkt vielleicht als Ausdruck der Meinungsfreude.

Sind "Meinungs-Surfen" und Denken nur noch im Bewertungs-Modus schon Normalität? Setzt nicht das wirklich menschliche Handeln und dessen Beurteilung die Nutzung aller menschlichen Sinne voraus? Die Bewertungen im Netz sind bereits Alltag geworden. Das Sternchen-Geben gibt dem User ein Gefühl seiner Wichtigkeit. Und es ist eigentlich auch wirklich etwas Attraktives, weil es die klasssischen Machtverhältnisse umdreht.
 
Ist der Bewertungs-Kult etwa auch eine Emanzipation von alten Hierarchien und gewissermaßen ein Aufstand des Publikums?


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Mag. Julia Emma Weninger

Chefredakteurin LEADERSNET
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