Gastkommentar
Streik ist nicht gleich Streik

| Redaktion 
| 04.02.2024

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Die Streiks der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL) in Deutschland haben nicht nur dort, sondern auch in Österreich verbreitet zu Unmut geführt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mit ein paar Mythen und falschen Informationen rund um das Thema aufräumen. Im Zuge der Streiks in Deutschland tönte es in Österreich etwa unmittelbar, dass hierzulande viel weniger gestreikt würde, was hauptsächlich auf die gut funktionierende Sozialpartnerschaft zurückzuführen wäre. Vorausschicken möchte ich – und dies wird Sie, meine geneigten Leser:innen nicht verwundern –, dass ich die Sozialpartnerschaft in Österreich in ihrer derzeitigen Form als absolut reformbedürftig halte: zu teuer, falsche und zu hohe Tarifvertrags-Abschlüsse und ein Wust an Bürokratie. Ob da ein paar Streiktage mehr nicht sogar weniger Kosten als die Sozialpartnerschaft selbst verursachen würde, will ich an dieser Stelle einmal dahingestellt lassen.

Konfliktintensität und Kompromissbereitschaft 

Zurück zum Thema. Statistisch betrachtet ist es richtig, dass Österreich mit weniger als einem Tag Arbeitsausfall durch Streik bzw. Streiktage pro 1.000 Beschäftigte besser dasteht als Deutschland. Doch so signifikant, wie es sich für die meisten anfühlt, ist der Unterschied eigentlich gar nicht. Auch Deutschland verbuchte im Jahr 2000 nur circa einen Streiktag pro 1.000 Beschäftigte. Einen Peak gab es im Jahr 2015 mit 28,2 Streiktagen pro 1.000 Beschäftigte, im Jahr 2017 waren es schon nur noch 3,7 Streiktage pro 1.000 Beschäftigte und im Jahr 2022 6,4 Streiktage. Insgesamt gesehen also wirklich nicht so viel. Ist dies aber schon die ganze Wahrheit? Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt sogar zu dem Ergebnis, dass in Deutschland der Trend zu immer selteneren Streiks mit immer weniger Teilnehmer:innen geht. Mir scheint, diese Tendenz ist richtig, und vielleicht ist die Messgröße der durch Streik verursachten Fehltage pro 1.000 Beschäftigte nicht ganz korrekt gewählt, denn wenn große Gewerkschaften streiken, wirkt sich dies ganz anders aus, als wenn eine kleine dies tut.

Was verursacht nun aber den Eindruck, dass wir uns in einem permanenten und endlosen Streikdrama befinden? Ein Punkt ist wohl, dass die Konfliktintensität zu- und die Kompromissbereitschaft abnimmt. Aber vermutlich auch, weil nun vor allem kleine Gewerkschaften, wie etwa die GdL mit nur 40.000 Mitgliedern, ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen können, indem sie ihre Macht in kritischen und sensiblen Bereichen wahrnehmen. Das heißt, die Intensität des Streiks ist eine ganz andere. Das Streikrecht ist zwar grundsätzlich ein Teil des deutschen Grundgesetzes, in welchem jedoch nicht im Detail geregelt ist, was zugelassen werden kann bzw. muss. Es würde sich also lohnen, etwas tiefer in die Materie einzutauchen und darüber nachzudenken, warum hier vielleicht was geschehen sollte.

"Streikkassen"

Eine ebenso spannende Frage ist die nach der Finanzierung eines Streiks. Die Gewerkschaften zahlen circa 100 Euro pro streikende Person und Tag als Ersatz für den Ausfall des an diesem Tag vom Arbeitgeber:in nicht zu bezahlenden Gehalts. Dieses sogenannte Streikgeld kommt aus den Beiträgen der Gewerkschaftsmitglieder, die Größe ihrer "Streikkassen" behalten die Gewerkschaften jedoch für sich. Bei der GdL kommt noch hinzu, dass ihre Dachgesellschaft, der Deutsche Beamtenbund (DBB), 50 Prozent der Kosten übernimmt. Da aber ca. zwei Drittel der Mitglieder des DBB gar nicht streiken dürfen, wie etwa

Polizist:innen, dürften hier ausreichend Gelder vorhanden sein. Das wirft doch einige Fragen auf...

Wie hoch ist nun der Schaden der durch den angekündigten 6-tägigen Streik der GdL zu bewerten? Genannte Schätzungen sind meines Erachtens alle mit Vorsicht zu genießen, die meisten belaufen sich auf rund 1 Milliarde Euro – ganz abgesehen vom Schaden, der dem Standort entsteht, wenn ihm mangelnde Verlässlichkeit nachgesagt wird.

Regelung der Eskalation und Ausgestaltung

Und worum geht es bei dem Streik eigentlich? Im Grunde genommen sollte es um mehr Lohn und eine 35-Stunden Woche (bei vollem Lohnausgleich) gehen. Kenner:innen gehen jedoch davon aus, dass es der GdL vorrangig darum geht, der weitaus größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit 180.000 Mitgliedern ebendiese "abzujagen". Weshalb? Weil in Betrieben mit mehreren Gewerkschaften das Tarifeinheitsgesetz gilt, das bedeutet grob gesagt, dass die Tarifverträge der mitgliederstärksten Gewerkschaft für alle gelten. So weit so klar, denken, Sie – dann würde also der Tarifvertrag der EVG gelten. So einfach ist es nur leider nicht. Denn auch die kleine Gewerkschaft darf mit dem:der Arbeitgeber:in verhandeln, und auch sie hat ein Streikrecht. Hinzu kommt, dass bei der Deutschen Bundesbahn die Tarifverträge auf Betriebsebene gelten und dort entsprechend der Mitgliederstärke verhandelt wird, das heißt, dass in circa 54 Betrieben die EVG und in ca. 18 Betrieben die GdL verhandelt. So weit, so komplex also.

All diese Tatsachen lassen doch aufhorchen und führen zu Überlegungen, die ich durchaus unterstütze. Es geht dabei nicht darum, die im Grundgesetz garantierte Möglichkeit des Streiks abzuschaffen, sondern eher um eine Regelung der Eskalation und Ausgestaltung von Streiks, vor allem im Bereich der kritischen Infrastruktur. So sollte meiner Ansicht nach vor einem Streik ein verpflichtendes Schlichtungsverfahren stattfinden müssen. Verhältnismäßigkeit, also Schaden & Auswirkung, sollten sich gerichtlich messen lassen und entsprechend wirklich nur als das letzte Mittel zum Einsatz kommen. Was jedenfalls verhindert werden soll, ist ein Missbrauch des Streikrechts.

Das Gebiet ist komplex, doch am Ende des Tages landen wir wieder beim Thema Verantwortung und Verlässlichkeit. Verantwortung, die Unternehmen für ihre Mitarbeiter:innen tragen, aber auch Verantwortung und Verlässlichkeit, die nicht nur Arbeitgebende, sondern auch Konsument:innen und Kund:innen von jenen einfordern und erwarten, die die Arbeit leisten. Mit Blick auf die 240-jährige Unternehmenstradition von JTI Austria wissen wir natürlich, dass es hierfür auch Kompromissbereitschaft im Abgleich der Anforderungen braucht, aber dann eben von beiden Seiten.

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