"Das österreichische Sozialsystem braucht ein Update"

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Wie kommt Österreich durch die COVID-Krise und welche langfristigen Schäden wird die globale Pandemie in unserer Volkswirtschaft hinterlassen? Das fragen sich derzeit nicht nur Think Tanks, Wirtschaftsforscher und Politiker. Fakt ist, dass die Staatsverschuldung mit über 30 Milliarden Euro auf ein Rekordniveau gesprungen ist. Und dass so viele Menschen in Kurzarbeit oder arbeitslos sind wie schon sehr lange nicht mehr.

Das bedeutet nicht nur Unsicherheit und Sorgen für die betroffenen Familien, das macht auch Sorgenfalten in den Gesichtern der Sozialversicherungsmanager. Jeder Versicherte, der kein Arbeitseinkommen hat, leistet auch keine eigenen Beiträge in die Kranken- und Pensionsversicherung. Wenn also einnahmenseitig ein Minus im Jahresabschluss steht und gleichzeitig durch die Pandemie ausgabenseitig ein Plus, dann ist Feuer am Dach.

Effizienz- und Digitalisierungsoffensive

Das österreichische System ist prinzipiell stabil und mit großzügigen Leistungsreserven ausgestattet. Trotzdem kann niemand befürworten, wenn in der Krisenbewältigung einfach das Familiensilber aufgebraucht wird. Spätestens jetzt braucht es ein Update – eine Effizienz- und Digitalisierungsoffensive, die ausgabenseitig wirkt und dabei auch noch mehr Kundenorientierung für die Versicherten bringt. Mehr Wege online erledigen können, einen elektronischen Impfpass immer dabeihaben, Rezepte und Verschreibungen rund um die Uhr bewilligen lassen.

Das wünschen sich nicht nur viele Menschen, sondern auch die Systemoptimierungsexperten. Ein solches Update darf aber keinesfalls den "Beitrags-Bug" haben. Denn auch wenn Beitragserhöhungen ein schneller Weg sind, um Finanzierungslöcher zu stopfen, so sind sie ein gewaltiger Sprengsatz für die Solidarität innerhalb der Versichertengemeinschaft. Schon jetzt ist die Höchstbeitragsgrundlage für gut verdienende Menschen sehr hoch und mit jeder weiteren Erhöhung geht die Schere auf zwischen den wenig und viel einzahlenden Versicherten auseinander – bei einer immer gleichen Versorgungsleistung unabhängig von der Beitragshöhe.

"Wieso sollen wir alle die gesundheitlichen Folgeschäden von Freizeitunfällen zahlen?"

In der bisherigen Systematik zeigen sich immer öfter die Grenzen der österreichischen Sozialversicherung und das führt dann hie und da auch zu Rufen nach einer individuelleren Berücksichtigung "individueller Risiken". "Wieso sollen Gesunde dafür zahlen, dass manche Menschen zu viel Essen, rauchen oder sich nicht gesund bewegen?" Ja, diese Frage kann man sich schon stellen, konsequenterweise müsste man dann aber auch fragen: "Wieso sollen wir alle die gesundheitlichen Folgeschäden von Freizeitunfällen bei 'Hochrisikosportarten' wie Radfahren, Wandern oder Laufen bezahlen?" Man merkt den leicht sarkastischen Unterton – es ist sehr gefährlich, das individuelle Alltags-Krankheitsrisiko einschätzen und einpreisen zu wollen.

Was bleibt, ist eine große Vorgabe für das Weiterdenken, Reformieren und Modernisieren des österreichischen Sozialversicherungssystem, das dringend notwendig ist. Wenn wir die zentralen Säulen erhalten wollen und auch unseren Kindern und Enkeln die uns selbstverständliche soziale Sicherheit bieten wollen, dann müssen wir bereit sein zu einem tabulosen, nach vorne gerichtetem Denken. Ohne Reformwillen und dem Drang nach Erneuerung kann auch ein Unternehmen, das wie das unsere seit 237 Jahren erfolgreich ist, nicht bestehen und Krisen bewältigen.

All diese Aspekte müssen von der Politik und der Sozialpartnerschaft offen formuliert und gemeinsam beantwortet werden. Dann können wir nach der COVID-Pandemie auch ein „Comeback" der Sozialversicherung gestalten.

www.jti.com


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